Mittwoch, 6. September 2023

Preisgekrönte Doktorarbeit: Wie Klimakleber die Verfassung neu interpretieren

FAZ  hier  Artikel von Sascha Zoske • 4.9.23

Ob es wirklich dem Klimaschutz dient, wenn Menschen sich auf Straßen festkleben oder Kartoffelbrei auf Gemälde werfen, will Samira Akbarian nicht beurteilen. Dazu fehle ihr die wissenschaftliche Expertise, meint die Juristin. Aus der Per­spektive ihres Fachgebiets hält sie es aber für möglich, dass die radikalen Aktivisten der Demokratie einen Dienst erweisen. Denn ziviler Ungehorsam, so ihre These, könne die Verfassung neu interpretieren.

Mit ihrer Argumentation hat Akbarian gleich zwei Jurys beeindruckt – wobei sie ihre Gedanken nicht in einem Plädoyer darlegte, sondern in einer Dissertation. Für ihre Doktorarbeit hat die 32 Jahre alte Wissenschaftlerin der Goethe-Universität den Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung in der Sektion Geistes- und Kulturwissenschaften erhalten. Die Auszeichnung ist mit 25.000 Euro verbunden. Überdies wurde ihr der mit 10.000 Euro dotierte Werner-Pünder-Preis der Universität Frankfurt verliehen.

Akbarian ist sich bewusst, dass schon der Begriff „ziviler Ungehorsam“ eine Wertung enthalten kann. Oft werde er von jenen gebraucht, die ihre Regelverstöße rechtfertigen wollten: Aktivisten der Letzten Generation beriefen sich ebenso darauf wie Reichsbürger und Corona-Leugner. Sie selbst definiert zivilen Ungehorsam etwas sperrig als „Rechtsbruch, der von einer Richtigkeitsüberzeugung getragen ist und einen Dissens zu staatlichen oder unternehmerischen Maßnahmen ausdrückt“. Ob ein solcher Rechtsbruch vertretbar sei, bemesse sich unter anderem daran, ob jene, die ihn verübten, „die Freiheit und Gleichheit aller respektieren“. Nach dieser Lesart könne es vertretbar sein, wenn sich Kritiker von Corona-Regeln trotz eines Verbots aus Infektionsschutzgründen zu einer Demonstration versammelten – aber nur, wenn sie gleichzeitig bemüht seien, eine Übertragung des Virus zu vermeiden.

Fassen manche Gerichte den Gewaltbegriff zu weit?

Inakzeptabel sind für die Wissenschaftlerin Aktionen, die mit Gewalt und Umsturzplänen verbunden sind. Aber ist es nicht schon eine Form von Gewalt, wenn die Letzte Generation den Verkehr auf Großstadtstraßen zum Erliegen bringt und möglicherweise in Kauf nimmt, dass Rettungseinsätze behindert werden? Akbarian findet, dass manche Gerichte den Gewaltbegriff zu weit fassen, wenn sie Strafen gegen die Protestierer verhängen. Die Versammlungsfreiheit sei im Grundgesetz garantiert, und dort stehe nicht, dass Versammlungen angemeldet werden müssten – das sei im Länderrecht geregelt. „Klassische Konzepte“ der Rechtsprechung verlangten von Demonstranten eine Kooperation mit den Behörden, anderen Juristen erscheine diese Forderung „zu anspruchsvoll“. Und immerhin kündige die Letzte Generation ihre Blockaden zum Teil ja an.

Protest müsse an den Orten stattfinden dürfen, an denen er relevant sei, und er dürfe auch stören, meint Akbarian. Sie sieht in zivilem Ungehorsam zudem eine Möglichkeit, jenen Gehör zu verschaffen, deren Bedürfnisse ansonsten nicht genug beachtet würden.

Nun finden sich in den Reihen der Klimakleber freilich eher selten Migranten, die vor Hitze und Dürre aus ihren Heimatländern geflohen sind. Die Aktivisten sind meist Deutsche, etliche studieren. Ist ziviler Ungehorsam also ein „Elitephänomen“? Ganz von der Hand zu weisen sei das nicht, gibt Akbarian zu. Allerdings könnten Privilegierte stellvertretend für jene ihre Stimme erheben, die diese Möglichkeit nicht hätten, also etwa für die Menschen des globalen Südens.

Auch wenn Akbarian die Effizienz von Protesten nicht bewerten will, lässt sie erkennen, dass sie den Sinn mancher im Namen des Klimaschutzes veranstalteten Happenings bezweifelt. Das Bewerfen von Bildern mit Brei etwa zählt sie „nicht unbedingt zu den klügsten Aktionen“, obwohl sie die dahinterstehenden Gedankengänge nachvollziehen könne – etwa wenn gefragt werde, warum der Schutz der Natur nicht genauso wichtig sein solle wie das Bewahren von Kunst.

Sitzblockaden als „psychische Gewalt“ gewertet

Die Juristin ist überzeugt, dass auch Gerichte solche Abwägungen anstellen können. „Ich finde, dass mehr mit Demokratie und Rechtsstaat zu vereinbaren ist, als bisher angenommen wird.“ Was die Rechtsprechung über die Klimaproteste angehe, so zeige sich kein einheitliches Bild. In den niederen Instanzen hätten manche Richter Aktivisten freigesprochen und damit fast schon „institutionellen Ungehorsam“ gezeigt. Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht hätten über zivilen Ungehorsam unterschiedlich geurteilt. Es gebe neben der einst vom Bundesgerichtshof vertretenen Auffassung, Sitzblockaden seien „psychische Gewalt“, auch liberale Tendenzen. So habe etwa das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass öffentlich zugängliche Flächen privater Unternehmen Schauplatz legaler Kundgebungen sein könnten, die nicht mit Verweis auf das Hausrecht unterbunden werden könnten.

Dass Akbarians Herz links schlägt, ist auch aus den Beiträgen herauszulesen, die sie für den „Verfassungsblog“ schreibt, ein Debattenforum für Verfassungsrecht. Dort billigt sie Proteste gegen den AfD-Mitgründer und Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke an der Uni Hamburg, verteidigt aber zugleich dessen Recht, ungehindert seine Vorlesungen zu halten: „Wird der Hörsaal dabei mit Beschimpfungen blockiert, wird er des Raumes für ebenjene kritische, reflektierte, in der Sache sogar oft auch harte Auseinandersetzung beraubt, die die Universität und die Wissenschaft eigentlich prägen sollte.“

Akbarian sagt, die Versammlungsfreiheit sei neben der Meinungsfreiheit ihr „Lieblingsgrundrecht“, doch sie selbst hält sich von Kundgebungen fern, „weil mir die dort getroffenen Aussagen zu einfach sind“. Genug Raum für Differenzierungen bietet ihr die Wissenschaft. Als Richterin oder Staatsanwältin sieht sie sich nicht, die Rolle einer Rechtsanwältin erscheint ihr zu eng. Stattdessen strebt sie als Mitarbeiterin am Lehrstuhl des Frankfurter Rechtsphilosophen Uwe Volkmann die Habilitation an. Den schwierigen Weg zur Professur kann sie gelassener angehen als viele Nachwuchsforscher in anderen Fächern. Als Inhaberin zweier Prädikatsexamina und Verfasserin einer preisgekrönten Doktorarbeit weiß sie: „Ich kann jeden Job machen, den ich will.“

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