Dienstag, 4. Juli 2023

Ziviler Ungehorsam ist nicht revolutionär, sondern reagiert auf Uneingelöstes

hier  TU Berlin Interview mit Dr. Peter Ullrich - Das Interview führte Barbara Halstenberg.

Tag des Ungehorsams: Protestforscher Dr. Dr. Peter Ullrich spricht im Interview über die Hintergründe von zivilem Ungehorsam, welche Rolle die Letzte Generation dabei spielt und wie Gesellschaft, Medien und Polizei darauf reagieren

Was versteht man eigentlich unter zivilem Ungehorsam?

Ziviler Ungehorsam ist eine Form des sehr entschlossenen Protests auf Basis einer Gewissensentscheidung. Man kann sie als bewusste Regelübertretung verstehen, die strikt gewaltfrei vorgeht, aber persönliche Nachteile wie Strafen dafür in Kauf nimmt. Es geht in der Regel um „zivile“, progressive Ziele wie Menschenrechte.

Wie legitimiert sich ziviler Ungehorsam in einer demokratisch verfassten Gesellschaft?

Ziviler Ungehorsam hatte historisch eine Bedeutung u.a. in autoritären Regimen, beispielsweise im Kampf gegen Kolonialismus und ist auch in den Grenzbereichen der Demokratie wichtig, insbesondere dort, wo diese ihre Grundwerte nicht realisieren kann oder sich als strukturell regelungsunfähig erweist. Ziviler Ungehorsam ist dann eine Reaktion auf einen wahrgenommenen gesellschaftlichen Notstand.
Er ist in der Regel nicht revolutionär, sondern reagiert auf Uneingelöstes. Das Thema Klima ist dafür besonders typisch: Kaum irgendwo sonst ist die Lücke zwischen Überlebensnotwendigem, von der Politik als anstrebenswert Postuliertem einerseits und andererseits dem tatsächlich Realisierten, also erfolgreicher Umweltpolitik, so groß.

Welche Voraussetzungen müssen zusammenkommen, damit ziviler Ungehorsam Erfolg hat?

Der Erfolg von Protesten aller Art ist nicht leicht zu bestimmen, weil er sich oft erst langfristig und nicht unmittelbar einstellt. Ziviler Ungehorsam braucht zunächst die Entschlossenen, die bereit sind, den persönlichen Preis in Kauf zu nehmen. Zweitens hängt es davon ab, ob eine Resonanz ausgelöst wird. Das kann durch Unterbrechung von Abläufen geschehen, die tatsächlich Handlungsdruck erzeugen oder durch die Lenkung des öffentlichen Interesses, insbesondere der Medien auf das Anliegen. Dazu kommen weitere Faktoren wie die Offenheit des politischen Systems, das Vorhandensein von etablierten Koalitionspartner*innen usw. Ein einfaches Erfolgsrezept für jede Lebenslage gibt es nicht. Aber diese Protestform lebt von der großen Entschlossenheit – und im Falle der Letzten Generation auch Ausdauer – der Aktivist*innen.

Provokanten Aktionen des zivilen Ungehorsams wie den Verkehrsblockaden der Letzten Generation wird vorgeworfen, dass sie kontraproduktiv seien, weil sie eine Mehrheit in der Bevölkerung gegen sich und damit letztlich gegen die Sache des Klimaschutzes aufbringen. Können Sie das bestätigen?

Ich halte das im Kern für ein Alibiargument derjenigen, die gerade die Anliegen der Protestierenden entweder ablehnen oder aber sich nicht in der Lage sehen, diese umzusetzen, weil etwa parlamentarische Mehrheiten fehlen oder aus Koalitionsdisziplin. Trotzdem gibt es sicher auch ein Vermittlungsproblem und wie immer werden Menschen von disruptivem Protest unterschiedlich in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem haben die meisten von uns sich im Bestehenden so oder so eingerichtet. Die Protestierenden erzeugen sicherlich auch Wut, weil sie an unser aller Verstrickung erinnern. Der zivile Ungehorsam macht die Dringlichkeit der Lage klar – es geht um das Überleben der Menschheit, jetzt und unmittelbar – aber er ist keine politische Bildungsmaßnahme, die geeignet ist, alle mitzunehmen.

Andere Klimabewegungen wie die Umweltbewegung gab und gibt es – ist die Letzte Generation eine neue Richtung?

Ihr Handlungsrepertoire ist nicht grundsätzlich neu, Blockaden und andere Formen zivilen Ungehorsams unterschiedlichster Art gibt es seit langem, aber das kollektive Handankleben ist innovativ. Kennzeichnend ist ihre unbedingte Entschlossenheit bei gleichzeitig ja äußerst moderaten Forderungen. Die Bewegung appelliert ja an die Regierung und will sie nicht stürzen, sondern von unten beeinflussen um ein Tempolimit einzuführen und einen Gesellschaftsrat zu etablieren.
Sie stellt nicht zwingend die gesamte naturzerstörerische imperiale Lebensweise zur Disposition wie das andere Umweltgruppen mit durchaus radikaleren Forderungen vertreten, oder auch viele gegenwärtige politikwissenschaftliche Analysen des Weltsystems.

Ist das Medieninteresse an Aktivismus gerade hoch oder eher niedrig?

Wir beobachten grundsätzlich seit Jahren eine Zunahme des medialen Interesses an Protest. Die Kolleg*innen der Protestforschung können sich in der jüngeren Vergangenheit gerade durch Fridays for Future und die Letzte Generation kaum vor Presseanfragen retten. Das ist aber eine rein quantitative Abschätzung. Die Darstellung der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Phänomene ist jedoch nicht immer zufriedenstellend. Es gibt Tendenzjournalismus und die üblichen Nachrichtenfaktoren, die eher Zuspitzung als komplexe Analyse unterstützen. Das Gesamtbild ist also uneinheitlich.

Repressive Tätigkeiten der Polizei wie Kameraüberwachung oder DNA-Analytik haben sich in den letzten Jahren verändert. Inwieweit beeinflusst das den zivilen Ungehorsam?

Da gibt es keinen einfachen, direkten Zusammenhang, auch wenn Protestierende immer wieder auf polizeiliche Maßnahmen reagieren. Auch meine eigenen Forschungen zusammen mit dem Kollegen Philipp Knopp haben gezeigt, wie sehr beide Seite einander beobachten und ihre Handlungsrepertoires aufeinander einstellen, nicht zuletzt im Hinblick auf Überwachungsmethoden und Gegenüberwachung. Aber die Letzte Generation ist eine relativ neue Bewegung. Man kann nur immer wieder staunen, wie mutig die Aktivist*innen sind. Wenn man hier eine politische Wertung meinerseits neben der wissenschaftlichen Einordnung heraushört, dann ist das unbestreitbar. Wissenschaftler*innen können sich hier nicht heraushalten.

Aber auch unabhängig von den Sympathien ist es offensichtlich, dass es einen immensen behördlichen Verfolgungsdruck gibt, der von konservativen Medien sekundiert wird, insbesondere das Bestreben die polizeilichen Präventivmaßnahmen wie beispielsweise mehrtägige Ingewahrsamnahmen ohne Vorliegen eines Delikts immens auszuweiten, den Protest zu kriminalisieren, indem die Letzte Generation zu einer „kriminellen Vereinigung“ stilisiert wird, als ginge es ihr um kriminelle Ziele! Hier stehen erreichte liberale Standards massiv zur Disposition. Kolleg*innen sehen deshalb nicht nur Kipppunkte im Klima, sondern auch Kipppunkte in der Erosion der liberalen Demokratie.

Rechte Polizeinetzwerke die aufgedeckt werden oder Nazichats unter Polizisten – gibt es da eine Polarisierung u.a. auch durch die Letzte Generation oder hat das andere Gründe?

Die gesamte gesellschaftliche Diskussion über Polarisierung ist etwas aufgebauscht, ein medialer Hype, der sich empirisch kaum untermauern lässt, außer in der Hinsicht, dass die Meinungsextreme weit auseinanderliegen. Aber die meisten Menschen versammeln sich in den meisten Fragen irgendwo in der Mitte. Und viele der angeblichen Polarisierungsthemen, wie Umweltschutz, genießen durchaus breite und wachsende Zustimmung.

Aber aktuelle Debatten wie der Streit um die Mittel von Protestgruppen sind ein Gelegenheitsfenster für autoritäre Position, die versuchen, ihre Forderungen zu unterstreichen und Gewinn aus der Situation zu schlagen. Akteure aus der Polizei und ihrem Umfeld, namentlich den Polizeigewerkschaften, spielen im aktivist*innenfeindlichen Diskurs eine relevante Rolle.

Protestierende müssen wissen, dass sie im Kontakt mit der Polizei auf unterschiedliche Typen und Handlungsstrategien treffen. Es gibt durchaus eine über die Jahrzehnte gewachsene Demokratisierung und Liberalisierung, aber die ist immer fragil. Die Missachtung von Grundrechten, ein autoritäres Rollenverständnis, wenig Verständnis für Protest insbesondere bei Bereitschaftspolizist*innen, tendenziell eher konservative Einstellungen und die Bereitschaft teils auch rechtsradikale Artikulationen hinzunehmen oder zu decken, zeigen eines deutlich: Die Polizei ist politisch nicht neutral und strukturell ordnungsstabilisierend.

Welche Berührungspunkte haben Sie mit dem Thema ziviler Ungehorsam im Zentrum Technik und Gesellschaft aktuell?

Viele unserer Projekte befassen sich mit Umweltthemen, einige von uns unterstützen die Scientist for Future. Die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und gesellschaftliche Alternativen dazu, aber auch der gesellschaftliche Umgang mit Protest sind unser täglich Forschungs-Brot.

Im November beschäftigt sich beispielsweise ein internationaler Workshop am ZTG in Zusammenarbeit mit dem Institut für Protest- und Bewegungsforschung und dessen Arbeitskreis „Soziale Bewegungen und Polizei“ mit Alltagswiderständigkeiten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen