hier Von Arvid Haitsch 21.01.2022
E-Autos als Energiespeicher
Elektroautos könnten bald zeitweise so viel Energie ins Netz speisen wie hundert Atomkraftwerke – und dabei Strompreise dämpfen sowie Blackouts verhindern. Doch Politik und Industrie drohen die Chance zu verpassen.
Die Zukunft beginnt jetzt, so sieht es jedenfalls Volkswagen. Ab dem Frühjahr wollen die Niedersachsen ihre Elektroautos mit einem neuen Feature verkaufen: Die Modelle ID.3, ID.4, ID.5 mit 77-kWh-Akku werden künftig zum bidirektionalen Laden ausgerüstet. Das bedeutet, dass sie Strom nicht nur aus dem Netz ziehen, sondern auch wieder zurückgeben können.
Es soll das nächste große Ding in der Elektromobilität werden. Millionen Autos als mobile Powerbanks, die sich zu einer Art von virtuellem Kraftwerk vernetzen lassen. Dieses könnte das Stromnetz erheblich entlasten und Preise dämpfen.
Zugleich verspricht der gigantische dezentrale Speicher neue Erlösquellen für Autofahrer und Konzerne. Volkswagen will schon bis 2030 zusätzliche Umsätze erzielen. »Zudem kann das Laden für Kunden so deutlich günstiger werden«, verspricht Elke Temme, die bei Volkswagen das neue Geschäftsfeld Laden und Energie leitet.
Billigerer Strom? In der aktuellen Energiepreiskrise eine besonders verlockende Verheißung. Verbraucherportale melden Erhöhungen der Gastarife von im Schnitt 70 Prozent. Auch der Strom wird deutlich teurer, Discountanbieter kollabieren, der Kostenvorteil von Elektroautos gegenüber Benzin und Diesel schmilzt .
Die Lage könnte sich weiter verschärfen, denn die Energiewende steht vor großen Herausforderungen: Wenn die von Klimaminister Robert Habeck vorgestellten ambitionierten Ausbaupläne für Wind- und Solarstrom wahr werden und Kohle- sowie Atomkraftwerke abgeschaltet werden, könnte ein gewaltiges Managementproblem für das deutsche Stromnetz entstehen.
Angst vor der Dunkelflaute
Hinzu kommen die von der Ampelkoalition bis 2030 angepeilten 15 Millionen Elektroautos als zusätzliche Verbraucher. Am schlimmsten wäre eine Dunkelflaute, wenn Sonne und Wind fehlen, und dann noch alle Autos zugleich nach Feierabend an den heimischen Stecker kommen. Zig Milliarden teure Investitionen in Leitungen und Speicher werden nötig, damit die vom Wetter abhängige Energie dann und dort bereitsteht, wo sie benötigt wird.
Das Gute: Einen Teil dieser Speicher könnten die Akkus der Elektroautos selbst bieten – wenn ihre Fahrer sie in den Dienst der Energiewende stellen.
Dann würden die Fahrzeuge verstärkt aus dem zeitweisen Überangebot erneuerbarer Energie schöpfen, das schon heute oft ungenutzt bleibt. 6500 Gigawattstunden seien es 2019 in Deutschland gewesen, so VW. Damit hätten 2,7 Millionen Elektroautos ein Jahr lang fahren können.
15 Millionen E-Autos – Kapazität von 100 AKW
Noch besser sieht das Bild aus, wenn E-Autos zeitweise ent- statt beladen werden dürfen. Was theoretisch kein Problem sein sollte, weil Pkw 95 Prozent der Zeit sowieso nicht fahren. Sie könnten etwa abends, wenn eine Spitzenlast an Strom verlangt wird, etwas ins Netz abgeben (»vehicle to grid«, kurz V2G), und dann über Nacht vollladen – oder nachmittags an einem sonnigen, windigen Tag.
Ein Auto, das elf Kilowatt Leistung bereitstellt, würde in einer Stunde mehr Strom liefern, als ein deutscher Haushalt an einem Tag durchschnittlich verbraucht. Sind 15 Millionen E-Autos zugleich angeschlossen, hätten sie eine Kapazität von 165 Gigawatt, so viel wie 100 Atomkraftwerke.
Etwas praxisnäher illustriert ein anderer Vergleich die potenziellen Vorteile der E-Autos im Stromnetz: Mit den Fahrzeugen ließen sich alle heutigen Gaskraftwerke in Deutschland fünfmal ersetzen, zumindest kurzzeitig. Gaskraftwerke liefern meist die besonders teure Spitzenlast für wenige Stunden. Schon heute gibt es mehr als eine Million E-Autos (inklusive Plug-in-Hybride) im Land, ihr potenzieller Nutzen fürs Stromnetz bleibt ganz überwiegend ungenutzt.
Sind die Elektroautos also nicht das große Problem, sondern die Lösung für die künftige Energieversorgung?
Smartes Laden senkt Kosten
Energieökonom Wolf-Peter Schill vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin rechnet mit seinem Team in einem Modell durch, wie E-Autos das Stromsystem beeinflussen. In einem Zukunftsszenario mit 95 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien und 40 Millionen Elektroautos würde ein ungesteuertes Laden der Fahrzeuge besonders teuer.
Laden die Autobesitzer smart gesteuert, sinken die Kosten deutlich. Und wenn sie bei Bedarf auch Strom zurückgeben, könnten die gesamten Systemkosten in Schills Rechnungen sogar niedriger liegen als in einem Szenario ohne die elektrifizierte Autoflotte.
Dafür müssten allerdings zahlreiche Randbedingungen erfüllt sein, dazu zählen hohe CO₂-Preise. Zudem gibt es Alternativen, um den Energiesektor mit anderen Sektoren zu koppeln, die in den Modellrechnungen noch nicht berücksichtigt sind. Beispiele wären Wärmepumpen zum Heizen oder mit Grünstrom erzeugter Wasserstoff für die Industrie. Kommen die zum Einsatz, verändert sich die Rechnung. Diese Alternativen können das Energiesystem ebenfalls flexibler machen, sie konkurrieren darin mit Elektrofahrzeugen, meint Schill.
Nissan Leaf kann es schon lange
Trotzdem wäre das bidirektionale Laden von Autos »aus Systemperspektive besonders sinnvoll«. Handelt es sich doch um die einzige Variante, bei der der Stromfluss umgekehrt wird, wenn das Elektrizitätssystem mit einem anderen Energiesektor (in diesem Fall Verkehr) gekoppelt wird. Der Branchenverband BDEW sieht das Laden in zwei Richtungen deshalb als zentralen Teil der Energiewelt der Zukunft.
Bloß stehen auf dem Weg dahin noch etliche Hürden. Die erste ist, dass die meisten heutigen Elektroautos gar nicht dafür ausgerüstet sind, Strom abzugeben. Ausnahmen sind Modelle, die den aus Japan stammenden Ladestandard Chademo nutzen, darunter der Nissan Leaf.
Wegen der in Japan hohen Gefahr von Stromausfällen infolge von Erdbeben legte der Energiekonzern Tepco, der Chademo mitentwickelte, von Anfang an Wert auf diese Zusatzfunktion als Notstromaggregat. Die deutschen Ingenieure, die den konkurrierenden und in Europa weitgehend durchgesetzten Standard CCS ersannen, planten das hingegen nicht ein.
Erst Anfang Januar begann die Internationale Organisation für Normung nach jahrelanger Vorarbeit, über eine neue Norm namens ISO 15118-20 abzustimmen, die das Verfahren standardisieren soll. An weiteren Normen und Standards wird gearbeitet. Von den Ladestationen über Netzanschlüsse zu Kabelverteilern und Ortsnetzstationen ist alles darauf vorzubereiten, dass Strom auch einmal andersherum fließt. Die Schutztechnik gegen Überladung muss angepasst werden.
Vor allem benötigen alle Stationen im Netz Signale, wann wie viel Strom in welche Richtung fließen soll. Dafür gibt es noch keinen einheitlichen Kommunikationsstandard. »Ein Abschluss aller notwendigen Aktivitäten wird bis 2027 angestrebt«, heißt es beim Elektrotechnikverband VDE. Bekannt sind viele solcher Fragen schon durch den Boom von Solaranlagen, zurückspeisende E-Autos machen Lösungen komplexer.
Und das ist nur die Papierarbeit, bevor Leitungen oder Transformatoren angepasst werden. Für das Sammeln und Übertragen der nötigen Stromdaten sind laut VDE sogenannte Smart Meter Gateways nötig. Die bisher bekannten intelligenten Stromzähler genügen nicht; dabei soll sich deren seit Jahren laufender Einbau noch bis 2032 hinziehen.
Strom für Säge, Kaffeemaschine oder Grill
Erheblich sind zudem die rechtlichen Hürden. Dass Autos auch Energielieferanten sein können, steht bislang weder im Energiewirtschaftsgesetz noch im Personenbeförderungsgesetz, um nur eine Auswahl zu nennen. Das zu ändern, dürfte dauern.
Im Fahrzeug hingegen muss oft nur die Software geändert werden. Daher liegt es aktuell bei den Herstellern, ob und wie sie das bidirektionale Laden ermöglichen: Soll der Gleichstrom aus der Batterie noch im Auto in den vom Netz benötigten Wechselstrom umgewandelt werden oder erst außerhalb mit einem in der Ladestation eingebauten Wechselrichter? Wie stark darf die Leistung sein?
Statt bis zu elf Kilowatt, wie für den Stromfluss vom Auto zum Netz oft angenommen, liefern neuere Modelle, die wie der aktuelle Hyundai Ioniq 5 trotz CCS-Standards für bidirektionales Laden ausgerüstet sind, mitunter nur 3,6 Kilowatt. Das reicht eher, um anderen Elektroautos ein bisschen Ladehilfe zu geben oder Kleingeräte anzuschließen. So, wie Ford es der Kundschaft seines neuen Elektro-Pick-ups F-150 Lightning nahelegt: »eine Säge, eine Kaffeemaschine, einen Grill oder was auch immer«. Nützlich, aber nicht für das Netz.
Elon Musk schürt Angst vor leeren Akkus
Tesla hält die Technik gar für überbewertet. Auf dem »Battery Day« des Unternehmens 2020 lästerte Firmenchef Elon Musk, »V2G klingt gut, hat aber viel weniger Nutzen, als die Leute denken.« Mit bissiger Polemik warnte Musk vor enttäuschten Kunden, die morgens losfahren wollen, aber einen leeren Akku vorfinden, weil sich nachts andere an ihrem Strom bedienten: »Die Leute wollen die Freiheit, fahren zu können und zu Hause zu laden.«
Viel besser seien Heimbatterien außerhalb des Autos, wie Tesla sie vermarktet. Auch sie sollen Strom nicht nur speichern, sondern ins Netz zurückgeben . Inzwischen gibt es dazu auch in Deutschland spezielle Tarife.
Die Angst vor dem Griff fremder Instanzen auf den eigenen Auto-Akku spielte auch eine Rolle im bisher größten Konflikt über Regeln für das bidirektionale Laden in Deutschland. Das Bundeswirtschaftsministerium zog im Januar 2021 einen Gesetzentwurf zurück, der die Netzbetreiber zur »Spitzenglättung« ermächtigt hätte. Für bis zu zwei Stunden täglich hätten sie Elektroautos am Laden hindern können. Die Autohersteller und Stromhändler liefen Sturm dagegen, weil sie fürchteten, dass ihre Produkte dadurch unattraktiv würden.
Was aus dem Gesetz wird, ist unklar. Eine Arbeitsgruppe für bidirektionales Laden der Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität hat dies auf die Aufgabenliste der neuen Bundesregierung gesetzt. Im Koalitionsvertrag der Ampel steht immerhin ein Satz: »Wir werden bidirektionales Laden ermöglichen.«
Laden am Abend dürfte teuer werden
Irgendwie muss verhindert werden, dass Massen von Elektroautos die Lastspitzen der Stromnachfrage noch weiter in die Höhe treiben, da sind sich die Experten einig. »Das muss schon bei geringen Flottengrößen unbedingt geregelt werden«, meint Energieökonom Wolf-Peter Schill.
Er sei zuversichtlich, dass der Markt schon dafür sorgen werde, »wenn wir das nicht regulatorisch versieben«. Man werde bald gar keinen Anbieter mehr finden, der das Laden zu Spitzenlastzeiten erlaube, prognostiziert Schill – einfach weil es für Stromanbieter künftig zu teuer werde, Elektrizität zu den teuersten Zeiten einzukaufen und nach einem festen Tarif an die Endkunden weiterzuleiten.
Die müssen sich auf neue Unsicherheit einstellen – nicht nur darüber, wann sie wie viel Strom bekommen, sondern auch noch, wie viel der dann gerade im Moment kostet. Wenn sie sich allerdings darauf einlassen, die Bedürfnisse des Netzes über die eigenen zu stellen, könnte es für sie unter dem Strich sogar Geld bringen.
Profit von 662 Euro pro Auto und Jahr
Ein Profit von 662 Euro pro Jahr sei im deutschen Netz für ein als Stromspeicher genutztes Elektroauto mit 100 kWh Batteriekapazität drin, haben Marco Aiello von der Universität Stuttgart und Kollegen in einer Studie ermittelt. Sogar 823 Euro pro Auto und Jahr erzielte die US-Firma Nuvve bei einem Feldversuch in Dänemark. Das sind jedoch nur zwei von vielen Schätzungen.
Völlig offen ist, wie die künftigen Geschäftsmodelle aussehen. Neben den Autobesitzern werden auch Stromanbieter und -händler, Autokonzerne und Ausrüster ihren Teil vom Kuchen haben wollen. Und nicht zuletzt die Netzbetreiber, die durch den Verzicht auf teurere stationäre Speicher am meisten gewinnen, zugleich aber auch in neue Technik für das bidirektionale Laden investieren müssen.
Um bis zu 100 Euro pro Jahr ließe sich die Stromrechnung heute schon mit einem smarten Tarif senken, heißt es bei Volkswagen. Im vergangenen Jahr hat der Autokonzern ein solches Angebot für seine Elektroautofahrer eingeführt. Die zahlen weniger, wenn es reichlich Ökostrom gibt, und mehr, wenn er knapp wird.
Für das Versprechen auf 100 Prozent erneuerbare Energie verzichten sie auf Freiheit, müssen das aber nicht unbedingt spüren. Sie können einfach eingeben, wann welche Strommenge im Akku sein soll. Den Rest erledigt der Algorithmus. Da kann auch mal mehrere Stunden die Leistung gedrosselt werden, ohne dass jemand etwas davon merkt.
Erst mal nur die Ego-Energiewende
Ebenfalls bereits möglich ist die nächste Stufe: Vehicle to Home, also Strom aus dem Fahrzeug ins Heimnetz zu übertragen. Nötig sind dafür eine für Gleichstrom ausgelegte Wallbox, die aktuell noch einige Tausend Euro kostet – rund zehnmal so viel wie ein herkömmliches Modell für Wechselstrom –, und ein Heimenergiemanagementsystem, das die Stromflüsse steuert.
Sobald alles steht, idealerweise zusammen mit einem Solardach und einer Heimbatterie, kann das Elektroauto Teil eines kleinen, beinahe autarken Stromnetzes werden. Und die teuren Strompreise bleiben draußen.
So eine Ego-Energiewende ist zwar nicht unbedingt netzdienlich, kann sozial unerwünschte Folgen haben und muss auch nicht wirtschaftlich effizient sein, sagt Energieökonom Wolf-Peter Schill. Sie könnte aber neuen technischen Entwicklungen den Weg bereiten, die sich später für das Gelingen der Energiewende und damit die ganze Volkswirtschaft nützlich machen.
Zuallererst aber müssten überhaupt erst die Millionen an Elektroautos her, für die das Ganze gedacht ist.
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