Montag, 2. Januar 2023

Bücher über die Zukunft: Zwei spektakuläre Visionen. Beide sind falsch

Spiegel  hier  Eine Kolumne von Christian Stöcker  01.01.2023

Zwei sehr erfolgreiche Bücher zeichnen ganz unterschiedliche Zukunftsszenarien: In dem einen wachsen Menschheit und Technologie weiter, bis hinaus ins All. Im anderen muss alles schrumpfen. Beide irren sich.

Wenn man die Debatten sortieren will, die heute über die Zukunft der Menschheit geführt werden, hilft dabei ein Buch. Ich habe »The Wizard and the Prophet« vom US-Autor Charles C. Mann schon oft weiterempfohlen, auch wenn es eine sperrige Lektüre ist. Das Buch zeichnet die Lebenswege von zwei sehr unterschiedlichen, sehr einflussreichen, aber bis heute kaum bekannten Männern nach.

Der eine ist Norman Borlaug, einer der Väter der sogenannten grünen Revolution. Sie hat uns die moderne Landwirtschaft mit all ihren Nachteilen beschert, aber auch die in den Sechzigern prophezeiten globalen Hungersnöte erspart. Borlaug ist der »Zauberer« aus dem Buchtitel. Er steht für eine Klasse von Menschen, die daran glaubt, dass die Menschheit auch ihre selbst geschaffenen Probleme mit technologischem Fortschritt lösen kann.

Zwei Visionen, einander vollständig entgegengesetzt

Der andere ist William Vogt, einer der Väter der modernen Umweltbewegung. Vogt ist der »Prophet« und laut Mann damit Vertreter der Gegenposition: Diese Menschen glauben daran, dass nur Rückbau, Reduktion, Dezentralisierung und Beschränkung die Menschheit und ihre Umwelt retten können.

Charles C. Mann kommt zu dem plausiblen Schluss, dass wir als Menschheit nur eine Zukunft haben, wenn wir die beiden Positionen miteinander versöhnen, das Beste aus beiden kombinieren. Auf Deutsch ist das Buch leider nicht erschienen.

Stattdessen hat das Jahr 2022 zwei Bücher hervorgebracht, die man als moderne Versionen der Wizard- und der Prophet-Position lesen kann. Es können nicht beide richtig liegen. Tatsächlich liegen beide falsch.

Immer zu wenig, da ist sich Ulrike Herrmann sicher

Das eine Buch ist »Das Ende des Kapitalismus« von der Journalistin Ulrike Herrmann, das seit Wochen auf der Bestsellerliste steht. Herrmanns Kernthese ist: Wir werden die Klimakrise nur in den Griff bekommen, wenn wir den Kapitalismus abschaffen und zu einer hybriden, rationierenden Plan- und Marktwirtschaft kommen. Ihr Vorbild dafür ist die britische Kriegswirtschaft unter Winston Churchill.

Herrmanns Hypothese fußt auf einer im Buch immer wieder wiederholten Behauptung: »Wenn die grüne Energie reichen soll, reicht nur ›grünes Schrumpfen‹.« Es werde immer zu wenig erneuerbaren Strom geben, da ist sich Herrmann sicher.

Das Buch ist aufwendig recherchiert, viel ist gut erklärt und mit Quellenverweisen belegt. Leider – oder besser: zum Glück – trifft das gerade auf die Kapitel nicht zu, auf denen die zentrale Behauptung basiert: Der grüne Strom wird niemals reichen. Herrmanns Begründungen dazu sind voller Konjunktive, kaum belegter Behauptungen, verwirrender Argumente und gezielter Auslassungen.

Doch, es gibt Sonnenstrom im Winter

Ein Beispiel: In Kapitel 11 des Buchs heißt es zuerst, Solarstrom sei zwar billig, spiele aber »in Deutschland kaum eine Rolle«. Ein paar Seiten weiter verrät Herrmann dann, dass Wind- und Sonnenenergie im Jahr 2021 gemeinsam mit Biomasse 42,4 Prozent der Stromerzeugung in Deutschland erledigt haben. Welchen Anteil Solarstrom dabei hatte, unterschlägt sie, ich liefere das hier einmal nach: Es waren im Jahr 2021 zehn Prozent der gesamten Stromerzeugung, im ersten Halbjahr 2022 schon über zwölf Prozent , denn Fotovoltaik wächst jetzt rasant (um 16 Prozent im Vergleich zum Vorjahr).

Es gibt übrigens auch im Winter Solarstrom – im Januar 2022 war es zum Beispiel über eine Terawattstunde. Das ist mehr, als ein mittleres Kernkraftwerk liefert.

Und wir haben noch nicht einmal ansatzweise so viel Solarkapazität in diesem Land, wie wir könnten, wenn vergangene Bundesregierungen das rasante Wachstum nicht absichtlich, ja begeistert  erstickt hätten. Allein auf deutschen Hausdächern ließen sich noch Fotovoltaikanlagen installieren, die zehn Kohlekraftwerke ersetzen könnten. 10,8 Millionen Dächer von Privathäusern wären einer Studie aus dem Sommer 2022 zufolge geeignet . Und die Leistungsfähigkeit von Solarzellen wächst weiter – auch dank deutscher Forschung .

Das stimmt einfach nicht

Noch mehr Potenzial liegt in großflächigen Anlagen, sei es auf den Dächern von Fabriken oder Lagerhäusern oder in der sogenannten Agrofotovoltaik. Ein neues Solarkraftwerk in Deutschland ist billiger , als ein bestehendes Kohlekraftwerk weiterzubetreiben. Deutschland hat noch jede Menge Platz für Sonnenstrom und auch für Windkraftanlagen.

Der angeblich so kräftige Widerstand gegen neue Windräder ist in Wirklichkeit das Hobby einer lautstarken Minderheit. All das weiß Herrmann und verrät es auch, zitiert Statistiken – kommt am Ende dann aber trotzdem zu dem Schluss, dass »Ökostrom teuer, nicht billig« ist.

Das stimmt einfach nicht. Zum Glück.

Hermann widerspricht sich regelmäßig. Zum angeblichen Rohstoffmangel für Erneuerbare sagt sie zum Beispiel einerseits: »So paradox es ist: Mit dem Verbrauch nehmen die Reserven zu.« Und: »Die Vorräte (an seltenen Erden) dürften lange reichen.« Und dann, ein paar Zeilen weiter: »Da der globale Bedarf an Rohstoffen steigt, sind die besten Vorkommen längst erschöpft.«

Warum behandelt sie Fachleute ganz unterschiedlich?

An anderer Stelle wirft Herrmann munter Primär- und Endenergie durcheinander. Primärenergie aber umfasst alles, also zum Beispiel auch die erwärmte Luft, die Kraftwerke, Autos und alle anderen Verbrenner ständig produzieren. Wenn Herrmann also von »gigantischen 12.779 Petajoule« spricht, die Deutschland pro Jahr verbrauche, ist das nicht sauber: Denn diese Zahl beinhaltet auch 2400 Petajoule »Umwandlungsverluste« in Kraftwerken. Das aber entnimmt man erst der Fußnote. In der gleichen Fußnote steht auch, dass der Verkehr 2070 Petajoule verbraucht – aber nicht, dass bei Verbrennerfahrzeugen mehr als drei Viertel der Energie gar nicht fürs Fahren verwendet werden , sondern vor allem zum Heizen der Umgebung.

Hermann behandelt zudem die zitierten Fachleute ganz unterschiedlich: Umweltökonomen, die schon vor Jahrzehnten erklärt haben, dass es Wachstum ohne Ressourcenverbrauch nicht geben könne, sind »renommiert«. Fachleute von Fraunhofer-Instituten oder der University of Oxford dagegen, die aus physikalischen Fakten und empirischen Daten klare Trends ableiten, sind immer »optimistisch«, manchmal auch »besonders frohgemut«, jedenfalls »Technikoptimisten« und immer ein bisschen blauäugig.

Es reicht noch nicht (stimmt), es wird nie reichen (falsch)

Herrmanns Argumente sind immer die gleichen: Es reicht noch nicht (stimmt), und es wird nie reichen (stimmt nicht). Elektrolyseure zur Herstellung von Wasserstoff aus Ökostrom sind »bisher nicht kostengünstig«. Dass die Preise für Batterien, Windräder und Solaranlagen weiter fallen werden, ist »leider nicht sicher«. Der Demontage der erkennbar aberwitzigen Idee, Strom aus Marokko per Oberleitung nach Deutschland zu transportieren, widmet Herrmann mehr als eine Seite.

Der absolut gangbaren Möglichkeit, stattdessen Wasserstoff per Pipeline nach Deutschland zu transportieren, nur einen Satz: »Neue Pipelines wären aber kompliziert und teuer.« Bei Speichertechnologien ist es das gleiche: Gibt es noch nicht, ist außerdem teuer, kann also nichts werden. Aber die Preise fallen eben , wenn Nachfrage und Angebot wachsen .

Am Ende krankt das Buch aber vor allem daran, dass es den gleichen Fehler macht wie die größten Fans des Marktes: Der Begriff »Wachstum« wird pauschal und völlig undifferenziert verwendet. Selbstverständlich wird es »grünes Wachstum« geben müssen, damit genau der Mangel und die Engpässe, die Herrmann beschreibt, überwunden werden können. Die gute Nachricht ist: Genau das wird auch passieren, denn grüne Energie ist in Wahrheit konkurrenzlos billig, leise, gesund.

Ein seltsames Verhältnis zum Wachstum hat Ulrike Herrmann mit dem Autor des zweiten Buchs gemeinsam, dem Briten William MacAskill – nur mit umgekehrten Vorzeichen. MacAskill kann von »Wachstum« – genauso unspezifisch wie bei Herrmann – gar nicht genug bekommen. Er ist deshalb ein Liebling des Silicon Valley, gewissermaßen der Hausphilosoph der Zauberer.

Klingt harmlos, ist es aber nicht

MacAskill ist einer der prominentesten Vertreter der Denkschule Longtermism, um die es in dieser Kolumne vor einem guten Jahr schon einmal ging. In seinem Buch »What We Owe the Future«, das 2023 wohl auch auf Deutsch erscheinen wird, erklärt er sehr ausführlich, was mit dem Begriff gemeint ist: Vor allem darum, existenzielle Risiken für die Menschheit in den Griff zu bekommen, bevor es zu spät ist: Pandemien, Biowaffen, Atomkrieg, künstliche Intelligenz außer Kontrolle.

MacAskill hat dafür eine philosophische Begründung, eine Art Turbo-Utilitarismus: Wenn wir nichts verkehrt machen, wird es in Zukunft viel mehr Menschen geben, als jemals gelebt haben. Auch die haben ein Recht auf ein gutes Leben und riesiges Potenzial, von Unsterblichkeit durch Gehirn-Upload in die Cloud bis zu interplanetaren, vielleicht interstellaren Siedlungsprojekten. Das ist es, was wir »der Zukunft« – gemeint ist die zukünftige Menschheit – »schulden«.

Postapokalyptische Heizprobleme

Das klingt im Zweifel harmlos, aber in der konkreten Ausformulierung sind manche von MacAskills Ideen unausgegoren bis verrückt. So fürchtet er etwa, dass wir zu viele fossile Brennstoffe verbrauchen – aber nicht nur wegen der Klimakrise, sondern eher wegen anderer Risiken: MacAskill fürchtet, dass die Kohle fehlen wird, falls eines Tages eine zukünftige, postapokalyptische Menschheit die Zivilisation neu aufbauen muss und etwas zum Heizen benötigt.

Trotz seiner Begeisterung gibt MacAskill zu, dass das gegenwärtige Wirtschaftswachstum auf dem Planeten Erde physikalisch nicht dauerhaft weitergehen kann. Aber noch mehr besorgt ihn die Aussicht auf »Stagnation«, die er in eine Reihe von Risiken stellt, zu der sonst noch das Aussterben der Menschheit und der Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation gehören.

Bevölkerungswachstum ist für MacAskill nicht zuletzt Mittel zum Zweck: Mehr Menschen bedeuten mehr potenzielle Wissenschaftlerinnen, Erfinder, Ingenieurinnen und so weiter, also mehr technischen Fortschritt, denn der darf nicht erlahmen. Fallende Geburtenraten findet der Philosoph deshalb alarmierend.

Musk und Bankman-Fried sind Fans

Wegen solcher Ideen ist Longtermism als neue Leitideologie des Silicon Valley ein großes Problem: Sie beeinflusst etwa das Denken des MacAskill-Fans Elon Musk. Und zwar so stark, dass der diesen Sommer erklärte , »Populationskollaps« aufgrund niedriger Geburtenraten sei »ein viel größeres Risiko für die Zivilisation als die globale Erwärmung«.

Auch Sam Bankman-Fried, der gerade die spektakulärste, mutmaßlich kriminelle Kryptopleite der Geschichte hingelegt hat, ist Longtermism-Fan und war – bis vor Kurzem – Großspender. Longtermism und sein taktischer Arm Effective Altruism sind die wohl bestfinanzierten philosophischen Bewegungen der Geschichte.

Und manche (privilegierte, gebildete, im Zweifel weiße) Menschen in Industrienationen benutzen die Grundfrage, »was wir der Zukunft schulden«, in selbstwertdienlicher Weise: Wichtig ist, dass es heute Leuten wie mir gut geht, denn wir schaffen den Fortschritt . Die Klimawandelopfer in Afrika und Asien sind für die Zukunft der Menschheit sowieso nicht so wichtig. Zitat aus einer Longtermism-Doktorarbeit : »Es erscheint mir jetzt plausibler, dass es, allgemein gesprochen, substanziell wichtiger ist, ein Leben in einem reichen Land zu retten als ein Leben in einem armen Land.«

Was ist das überhaupt, »Wachstum«?

MacAskill selbst spricht davon, dass »eine Erderwärmung um sieben oder zehn Grad« in »Ländern in den Tropen enorme Schäden anrichten würde«, was eine »kolossale Ungerechtigkeit« wäre, weil diese Länder zur Erhitzung selbst kaum beigetragen hätten. Dabei ist für Menschen in Pakistan oder Äthiopien die Klimakatastrophe keine ferne, apokalyptische Zukunft, sondern bittere Gegenwart. Auch 1,2 Grad Erwärmung haben schon katastrophale Auswirkungen.

Die Ideologie des Longtermism ist so verfehlt wie die, dass jetzt nur noch Schrumpfen oder Untergang angezeigt seien. »Wachstum« muss weder möglichst schnell enden (Herrmann) noch möglichst lange und intensiv weitergehen (MacAskill).

Simon Kuznets, der Erfinder des Bruttosozialprodukts, für seine Arbeiten zum Wachstum mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet, hat es in den Sechzigerjahren so formuliert: »Wer nach ›mehr‹ Wachstum ruft, sollte klarmachen, was wachsen soll und wozu.« Das gilt genauso für Rufe nach weniger Wachstum. Über diese Frage werden sich die Zauberer und Propheten verständigen müssen, wenn wir eine Chance haben wollen. 


Stöcker, Jahrgang 1973, ist Kognitions­psychologe und seit Herbst 2016 Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). Dort verantwortet er den Studiengang Digitale Kommunikation. Vorher leitete er das Ressort Netzwelt bei SPIEGEL ONLINE.

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