Mittwoch, 5. Juli 2023

Energiedaten heute: Die verblüffende deutsche Strombilanz nach dem Atomausstieg

 


Heute mal mit wesentlich mehr Windenergie als Solarenergie, normal war es immer umgekehrt

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Focus hier  Artikel von Von FOCUS-online-Redakteur Florian Reiter • 5.7.23

Groß waren die Befürchtungen: Begibt sich Deutschland mit dem endgültigen Vollzug des Atomausstiegs in die energiepolitische Abhängigkeit anderer Länder? Und verbrennen wir selbst wieder mehr klimaschädliche Kohle, statt die saubere Atomkraft zu nutzen? Eine Bestandsaufnahme zum Halbjahr zeigt: Die Realität sieht anders aus.  

In der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli verlor Deutschland die Kapazitäten eines ganzen Atomkraftwerks, ohne es zu merken. Pünktlich um Mitternacht erloschen die Marktgenehmigungen fünf großer Braunkohle-Kraftwerksblöcke, die zusammen insgesamt über eine Leistung von 1886 Megawatt verfügten. Zum Vergleich: Das abgeschaltete Kernkraftwerk Isar 2 kam auf eine Leistung von 1410 Megawatt.

Dass zum Juli-Beginn dennoch kein großes Strom-Chaos ausgebrochen ist, illustriert die Robustheit des deutschen Stromsystems. Als Mitte April die letzten drei deutschen Kernkraftwerke vom Netz gegangen waren, reihte sich eine Befürchtung an die nächste: Ist die Versorgungssicherheit in Deutschland überhaupt noch gewährleistet? Kommen wir ohne französischen Atomstrom überhaupt noch über die Runden? Oder kompensieren wir die weggefallene Leistung mit mehr Kohlestrom - und erweisen dem Klima damit einen Bärendienst?

Jetzt, zweieinhalb Monate später, gibt es die ersten belastbaren Daten, um sich dieser Frage zu nähern. Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE hat die Zahlen zur deutschen Stromerzeugung fürs erste Halbjahr 2023 vorgestellt. Was sagen also die Daten - wie ist die Lage auf dem deutschen Strommarkt? Zeit für eine Bestandsaufnahme.

Kann Deutschland sich noch selbst mit Strom versorgen?

Ja. Die Rechnung ist einfach: Die benötigte Leistung, die Deutschland braucht, um sicher über die Runden zu kommen, liegt je nach Tages- und Nachtzeit zwischen 40 und 65 Gigawatt. Alleine die sogenannte „gesicherte Kraftwerksleistung“, also die Summe der Stromerzeugung ohne die fluktuierenden erneuerbaren Quellen, liegt bei 90 Gigawatt. Solar- und Windstrom kommen dann noch obendrauf.

Die abgeschalteten drei Kernkraftwerke wiesen zusammen eine Leistung von vier Gigawatt auf. Auch deshalb ist Deutschland seit jeher ein sogenannter „Nettoexporteur“, liefert also übers Jahr betrachtet mehr Strom ins Ausland, als es importiert. 

Aber warum importieren wir dann massenhaft Atomstrom aus Frankreich?

Tatsächlich ändert sich im Sommer die Lage: In den Monaten Juni und Juli wird Deutschland oft zum Nettoimporteur, kauft vor allem Atomstrom aus Frankreich an, Wasserkraft-Strom aus der Schweiz, Erneuerbare Energien aus Dänemark. Das war schon vor dem bundesdeutschen Atomausstieg so. Dabei ist in den Sommermonaten der Stromverbrauch traditionell am niedrigsten und die Solarenergie kann verlässlich liefern. Warum dann also der massenhafte Import?

Das hängt mit den Kräften des Marktes zusammen, erklärt Bruno Burger, Experte am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme. „Ob ein Land Strom importiert oder exportiert, ist abhängig von den Börsenstrompreisen im Land, also den Erzeugungspreisen, und den Börsenstrompreisen in den Nachbarländern“, sagt Burger zu FOCUS online Earth. Für das Fraunhofer-Institut hat Burger die Statistik-Plattform „Energy Charts“ aufgebaut, kaum jemand beobachtet den Strommarkt in Deutschland so aufmerksam wie er.

Anders formuliert: Wenn es billiger ist, den Strom im Ausland einzukaufen als die heimischen Kraftwerke anzuwerfen, dann kaufen die Akteure auf dem deutschen Markt eben den Importstrom. Im Sommer ist zum Beispiel der französische Atomstrom günstig, weil sich Kernkraftwerke nur schwer drosseln lassen und somit gewissermaßen „zu viel“ Strom produzieren. Die Konsequenz sind Dumping-Preise, mit denen ein deutsches Kohlekraftwerk nicht mehr mithalten kann. Das ist billiger für die Verbraucher - und besser fürs Klima. 

Die Vorstellung, ein Land könne sich selbst nicht mit Strom versorgen, nur weil es aus dem Ausland welchen importiere, sei „ein Trugschluss und komplett falsch“, sagt Burger. Tatsächlich ist es ein Merkmal des europäischen Strommarktes, dass ständig irgendwo gehandelt wird, je nach Tageszeit, Preis und benötigter Last. Nach Polen, traditionell ein wichtiger Abnehmer deutschen Stroms, lieferte die Bundesrepublik etwa im Juni 2023 insgesamt 599 Gigawattstunden Strom - importierte aber gleichzeitig 44 Gigawattstunden von dort.

Diese Flexibilität drückt die Preise und sichert die Versorgungssicherheit. Im abgelaufenen Winter war etwa Frankreich ein großer Profiteur des europäischen Strommarkts: Aufgrund technischer Probleme und aufgeschobener Wartungen war zeitweise die Hälfte der 58 Meiler nicht am Netz. Aber vor allem die deutschen Kraftwerke sprangen in die Bresche, im Dezember etwa mit einer Nettolieferung von knapp mehr als 1000 Gigawattstunden.

Ist der deutsche Strommix schmutziger geworden seit dem Atomausstieg?

Tatsächlich nein. In den Monaten Mai und Juni wurde in Deutschland so wenig Strom aus fossilen Quellen erzeugt wie seit Jahren nicht - nur im Frühjahr 2020, als Deutschland im Corona-Lockdown war, wurde weniger produziert. Im Vergleich zum ersten Halbjahr 2022 ging die Produktion aus Braun- und Steinkohle in diesem Halbjahr um 21 bzw. 23 Prozent zurück, teilte das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme mit. Ein Trend, der den ganzen Kontinent erfasst: „Europaweit ist die fossile Stromerzeugung im ersten Halbjahr 2023 um 93 Terawattstunden niedriger als im ersten Halbjahr 2022 und auf dem niedrigsten Stand, seit wir Daten haben“, sagt Burger.

Aber wie kompensiert Deutschland jetzt die weggefallenen Mengen durch den Atomausstieg, wenn nicht mit Kohle? Vor allem durch einen stark gesunkenen Verbrauch. Die sogenannte Last lag in diesem Halbjahr um 16 Terawattstunden niedriger als im ersten Halbjahr 2022, die drei Atomkraftwerke lieferten auf das Jahr betrachtet ziemlich genau 30 Terawattstunden Strom, erklärt Burger. Wenn die Last also auch im zweiten Halbjahr niedrig bleibt, wäre die Erzeugung der drei AKWs alleine schon dadurch ausgeglichen, dass Deutschland weniger Strom verbraucht.

Auch hier handelt es sich um einen europaweiten Trend. In allen beobachteten Ländern war die Last im ersten Halbjahr 2023 geringer als im Vorjahreszeitraum, wie aus den Fraunhofer-Daten hervorgeht. Die Erneuerbaren Energien hingegen haben die weggefallenen Mengen an Kernenergie nicht aufgefangen, zumindest nicht in Deutschland. Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen ist im ersten Halbjahr nicht gestiegen, sondern lag sogar knapp unter dem Vorjahreswert - und das, obwohl Deutschland in den ersten sechs Monaten dieses Jahres alleine fünf Gigawatt Leistung bei der Photovoltaik zugebaut hat.

Doch weil die Erzeugung aus fossilen Quellen noch viel stärker zurückging, ist der Anteil erneuerbarer Quellen am deutschen Strommix auf einen Rekordwert gestiegen - 57,7 Prozent laut Fraunhofer-Daten. Der deutsche Strommix ist derzeit also so sauber wie nie, einen Zusammenhang mit dem Atomausstieg gibt es allerdings nicht. Tatsächlich ist es zumindest nicht unwahrscheinlich, dass wir mit eigenproduziertem Atomstrom noch weniger auf fossile Energien zurückgreifen würden. Europaweit ist die Erzeugung Erneuerbarer Energien außerdem um 34 Terawattstunden gestiegen, die deutschen Importmengen werden also im Schnitt sauberer.

„Der Wegfall der Kernkraftwerke wird sogar überkompensiert durch die gesunkene Last und die geringeren Exporte“, sagt Burger. „Wenn das Wetter im ersten Halbjahr noch besser gewesen wäre, hätten wir zusätzlich noch eine Kompensation durch den Zubau der erneuerbaren Energien gehabt.“ Aber, sagt Burger: „Eventuell kommt der ja im zweiten Halbjahr zum Tragen.“ Dann dürfte auch die Rolle der fossilen Energieträger wieder wichtiger werden: Marktbeobachter gehen davon aus, dass die jetzt abgeschalteten Kohlekraftwerke im Herbst wieder zurück ans Netz gehen.



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