Mittwoch, 2. November 2022

Update WAHL IN BRASILIEN: Da haben wir nochmal Glück gehabt

Update  MSN hier  Ingrid Schulze  2.11.22

Bolsonaro bestätigt vor den Richtern des Obersten Gerichtshofs Brasiliens, dass die Wahlen «vorbei» sind.

Kurz nachdem er den mehr als 58 Millionen Wählern gedankt hatte, die ihm bei den Wahlen ihr Vertrauen geschenkt hatten, begab sich der scheidende Präsident Jair Bolsonaro zum Sitz des brasilianischen Obersten Gerichtshofs, wo er den Richtern bestätigte, dass die Wahlen "vorbei" seien.

Der Präsident der Republik hat das Verb "beenden" in der Vergangenheitsform verwendet, er sagte "beendet". Deshalb müssen wir nach vorne schauen", bestätigte der Richter des Obersten Gerichtshofs Luiz Edson Fachin, berichtet das Portal G1.

Bolsonaro begab sich zum Sitz des Gerichts, nachdem er eine Einladung der Richter des Obersten Gerichtshofs erhalten hatte, denen er seine Niederlage bei den umstrittenen Wahlen vom Sonntag bestätigte, nach denen Luiz Inácio Lula da Silva nach mehr als zwanzig Jahren wieder die Präsidentschaft in Brasilien übernehmen wird.

Die Richter des Obersten Gerichtshofs haben gewürdigt, dass Bolsonaro seine Niederlage anerkannt hat, dass er sich an die Verfassung halten würde und dass er sogar so weit ging, die Blockaden zu kritisieren, die einige seiner Anhänger in den letzten Tagen auf mehreren Straßen errichtet haben, um gegen die Wahlergebnisse zu protestieren.

"Die Richter des Obersten Gerichtshofs bekräftigten (...) die Bedeutung der Anerkennung des endgültigen Wahlergebnisses durch den Präsidenten der Republik mit der Entschlossenheit, den Übergangsprozess zu beginnen, sowie die Garantie des Rechts auf Bewegungsfreiheit aufgrund der Blockaden auf den brasilianischen Straßen", heißt es in der von den Richtern veröffentlichten Erklärung.

Kurz zuvor hatte sich Bolsonaro erstmals öffentlich zu seiner Niederlage bei der Stichwahl am Sonntag geäußert, fast zwei Tage nach Bekanntwerden der Ergebnisse, und versprochen, sich an die Verfassung zu halten.

In seiner kurzen Erklärung wies der Führer der brasilianischen Rechtsextremen diejenigen zurück, die ihn im Laufe der Jahre als "antidemokratisch" gebrandmarkt hatten, und erklärte, er habe sich stets "innerhalb der vier Linien der Verfassung" bewegt.

Er bezeichnete die Straßenblockaden zwar als Ausdruck der "Empörung" und "Ungerechtigkeit" über "die Art und Weise, wie der Wahlprozess abgelaufen ist", rief aber dazu auf, sie "friedlich" durchzuführen, um deutlich zu machen, dass sie nicht wie die Linke handeln, deren Methoden "der Bevölkerung immer geschadet haben".


Stern hier  von Jan Christoph Wiechmann  31.10.2022

Nach einem erbitterten Wahlkampf setzt sich Ex-Präsident Lula in Brasilien gegen Amtsinhaber Bolsonaro durch. Der Wahlsieg sendet zwei wichtige Botschaften in die Welt, meint unser Autor.

Zum Schluss fällt der Wahlsieg knapper aus als erwartet – und doch klar genug, um jeden Zweifel zu beseitigen: Lula da Silva ist der rechtmäßige Sieger der Präsidentschaftswahl in Brasilien, mit mehr als zwei Millionen Stimmen Vorsprung. Eine Beanstandung macht keinen Sinn, schon gar nicht eine Neuauszählung durch das Militär. Die Demokratie im fünftgrößten Land der Welt bleibt am Leben.

Schlimm genug, das alles betonen zu müssen, doch Amtsinhaber Jair Bolsonaro hat bis zuletzt versucht, die Spielregeln der Demokratie zu unterminieren – ähnlich wie sein Vorbild Donald Trump. Dass er – ein Fan von Trump, Putin, Orban und anderer autoritärer Führer – gescheitert ist, ist das vielleicht wichtigste Ergebnis dieser Wahl. Ob er sich daran hält, einen friedlichen Übergang zu schaffen, werden die kommenden Tage und Wochen erst zeigen.
Während sämtliche Staatspräsidenten und Oppositionspolitiker Lula sofort gratulierten, hüllte sich Bolsonaro in der Wahlnacht in Schweigen. Er sei Schlafen gegangen, hieß es.

In seiner Siegesansprache an die Nation hat Lula da Silva zum Frieden aufgerufen, zur Aussöhnung, zur Nächstenliebe. Und, ohne Bolsonaro explizit zu nennen, auf dessen Hinterlassenschaften hingewiesen: Hass, Gewalt, Volksbewaffnung, Elend, Armut.
Bolsonaro hinterlässt ein gespaltenes Land, das er in erster Linie selbst so geschaffen hat, indem er Hass verbreitete und Lügen und Manipulation zum Kern seiner Kommunikation machte. Lula hielt ihm in seiner Siegesrede – etwas zu optimistisch – entgegen: "Es gibt nicht zwei Brasilien. Lasst uns wieder versöhnen."

Vor Lula stehen schwere Aufgaben – nicht nur ein politischer Gegner, der Desinformation-und Hasskampagnen fortführen wird, um an die Macht zurückzukehren. Anders als vor 20 Jahren, befindet sich Brasilien in einer wirtschaftlichen schwierigen Situation. Die Armut ist gestiegen, die Inflation hoch, das Haushaltsloch gewaltig, die Rohstoffpreise werden nicht für einen Boom sorgen, wie ihn Lula während seiner ersten Amtszeit erlebte. Die von ihm versprochenen Sozialprogramme müssen bezahlt, die Investitionen in Bildung, Kultur, Umweltschutz und die marode Infrastruktur erstmal finanziert werden.

Wenn es jedoch einer schaffen kann, dann der 77-jährige Lula da Silva, der nicht nur unangefochten ist im eigenen Lager – anders als etwa Biden – sondern auch in der Vergangenheit auf politische Gegner zugegangen ist und sich als Pragmatist gezeigt hat. Er ist weder ein dogmatischer Linker noch ein waschechter Sozialist noch ein alterssturer Bock.

Die vielleicht wichtigste Botschaft für die Welt, neben dem Sieg der Demokratie: Der Amazonas-Regenwald hat seinen alten Alliierten zurück. Lula sprach am Abend von dem klaren Ziel: "null Abholzung". Das wird ihm nicht gelingen, zumal die Abholzungsraten auch während seiner Präsidentschaft viel zu hoch waren. Aber es ist ein Zeichen an Klimaaktivisten und Staatenlenker und die Vereinten Nationen: Wenn ihr wollt (und zahlt), machen wir uns gemeinsam an die Rettung des größten Regenwalds der Welt.  


Euronews hier   

Von Stefan Grobe  & Gregoire Lory 31/10/2022

Optimismus in Brüssel nach Wahlsieg Lulas in Brasilien 

Ein Teil des Europäischen Parlaments ist indes besorgt, vor allem aus Umweltgründen.
Wichtig sei,dass Lula die Umweltschutzgesetze in Brasilien wiederherstellen und vor allem auch alle Institutionen stärken werde, die für die Durchsetzung des Waldschutzes wichtig seien, sagt die deutsche Grünen-Abgeordnete Anna Cavazzini. Unter Bolsonaro sei die Politik zum Schutz des Regenwaldes eine Katastrophe gewesen. Dies müsse eine Voraussetzung für Gespräche über einen Freihandel sein. Der Deal müsse teilweise neu verhandelt werden.


t-online hier  Von Florian Harms

Gravierende Folgen für alle Deutschen

"das ist ja gerade noch mal gutgegangen": Für diese sieben Worte der Erleichterung gibt es inzwischen fast jede Woche einen Anlass. Wir leben in krisenreichen Zeiten, und der Maßstab des Erfolgs hat sich verschoben. Die Heizung heizt immer noch, in der Ukraine ist die nukleare Katastrophe bisher ausgeblieben, Corona dümpelt nur so rum, und die Sabotage-Angriffe auf Pipelines und Bahnkabel sind auch verpufft. Mit blauem Auge davongekommen: So sehen Siege heute aus.

In diesen Stunden können wir für Brasilien aufatmen, wo der lupenreine Faschist Jair Bolsonaro die Wahl gegen seinen linken Herausforderer Lula da Silva um Haaresbreite verloren hat. Noch müssen wir den Stoßseufzer allerdings täglich erneuern. Dass der Unterlegene tatsächlich das Feld räumt, ist erst sicher, wenn der Möbelwagen vollgepackt den Präsidentenpalast verlässt und wir den Ex-Präsidenten in der Fahrerkabine erkennen können. Bis dahin sind wir besser beraten, bis zur letzten Minute mit schmutzigen Tricks, Umsturzversuchen und Gewalt zu rechnen. Bolsonaros großes Vorbild, Donald Trump, hat das vor seinem Abschied aus dem Amt beispielhaft durchexerziert und sich am Sturm auf das Kapitol ergötzt. Das Drehbuch ist übertragbar. Der Ausgang könnte in Brasilien sogar schlimmer sein.

Selbst ohne einen Putsch oder bürgerkriegsähnliche Zustände wird es der neugewählte Präsident Lula schwer haben. Der Hass zwischen den Lagern sitzt tief. Die Hälfte der Wähler hat sich für Bolsonaro entschieden. Seine Partei ist die größte in beiden Kammern des Parlaments. Auch wenn das für eine Mehrheit nicht reicht, bleibt Bolsonaros Einfluss weiterhin gewaltig. Seine Rückkehr bei den nächsten Wahlen ist sowieso locker drin. Sonnige Zeiten stehen erst einmal nicht ins Haus – und das betrifft auch uns im fernen Europa. Die Folgen der Wahl in Brasilien haben auch gravierende Folgen für uns.

Ob Deutschlands Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wurde, darüber kann man sich streiten. Aber dass Deutschlands Klima auch in Brasilien beschützt werden muss, ist leider Fakt.
Das Amazonasbecken gehört zu den Regionen der Erde, die einen besonderen Einfluss auf das globale Gleichgewicht des Klimas und dessen zunehmende Schieflage ausüben. Das ist keine Entschuldigung dafür, dass wir hierzulande seit Beginn der Industrialisierung klimaschädlichen Dreck in die Atmosphäre gepustet haben, als gäbe es kein Morgen. Doch der Niedergang des Regenwalds kann dem verheerenden Trend nun entscheidenden Schub verleihen.
Bolsonaros Amtszeit war in dieser Hinsicht eine Vollkatastrophe. Bei der illegalen Brandrodung hat er nicht nur beide Augen zugedrückt, sondern sie nach Kräften ermöglicht. Den weit fortgeschrittenen Vernichtungsfeldzug im Amazonasbecken muss Präsident Lula nun unter Kontrolle bringen. Schon das ist keine leichte Aufgabe. Doch auch die Rückkehr der Brandschatzer-Banden und ihres Paten Bolsonaro ist auf längere Sicht nicht vom Tisch. Die Politik in Europa muss deshalb eine Antwort darauf finden, wie man mit einer existenziellen Bedrohung und extremer Verantwortungslosigkeit umgeht, die zwar geografisch weit entfernt erscheint, uns aber dennoch betrifft, als geschähe sie direkt vor unserer Haustür.

Was also tun? Auf den ersten Blick scheint die Sache ganz einfach: Wer beim Klimaschutz nicht mitmacht, wird eben abgestraft. Ein lukratives Handelsabkommen wie das zwischen der Europäischen Union und dem südamerikanischen Handelsblock Mercosur, dem auch Brasilien angehört, darf nur in Kraft treten, wenn der Schutz des Regenwalds sichergestellt ist.
Unter anderem deshalb hat der jahrzehntelang verhandelte Mega-Deal in Europa noch nicht die Hürde der Ratifizierung genommen. Jetzt, da das Problem Bolsonaro endlich abgeräumt zu sein scheint, freuen sich Politiker in Brüssel und quer durch Europa bereits darauf, das Abkommen endlich unter Dach und Fach zu bringen. Ein großer Wurf wäre das, gut für Wirtschaft und Wachstum, hüben wie drüben. Und der Produktionsschub brächte nicht einfach nur mehr Dreck: Brasilien hat enormes Potenzial für saubere Energie und grünen Wasserstoff.
Doch man muss nur geringfügig die Perspektive wechseln, um einen Blick auf die Kräfte zu erhaschen, die an der Durchsetzung der Klimaziele zerren. Selbst die mächtige EU kann nicht als großherzige Gönnerin von Handelsvorzügen auftreten, die nach Belieben zusätzliche Bedingungen stellen kann. Die Union ist selbst im Zugzwang: Unsichere Lieferketten müssen gesichert werden – gegen die Engpässe, die uns die Corona-Pandemie beschert hat, aber auch gegen die übermächtige Stellung Chinas. Bei der Energieversorgung ist es dasselbe: Europa braucht vielfältigere Quellen und weniger Abhängigkeit von Russland. Diversifizierung tut also an allen Fronten not. Ohne ökonomische Schwergewichte wie Indien und Brasilien kommt man da nicht weit. Der Hebel, den man aus idealistischen umweltpolitischen Gründen eben noch kraftvoll ansetzen wollte, sieht dann auf einmal ganz schön kurz aus.
Deshalb gehören Klimapolitik und strategische Wirtschaftspolitik in einen gemeinsamen Topf. Man kann das eine nicht ohne das andere planen. Das ist kein harmonischer Prozess. Auf schmutzige Kompromisse muss man sich dabei leider einstellen: Nicht jeder Widerspruch zwischen Klima und Geschäft, zwischen sicherer Versorgung und sauberer Produktion lässt sich auflösen.
Umso dringender müssen endlich klare Leitlinien her. Erstens muss die Klimapolitik die oberste, nicht die zweitoberste Priorität haben, denn die Hütte brennt mittlerweile lichterloh. Hierzulande scheinen das bislang weder der Bundeskanzler noch der Bundespräsident noch der Oppositionsführer verstanden zu haben, anders ist die Zögerlichkeit nicht mehr zu erklären.
 Zweitens kann man problematische Abhängigkeiten nicht vermeiden, aber verteilen. Ein bisschen radikal-populistisches Indien, eine Portion problematisches Brasilien, ein Happen aus dem mörderischen Saudi-Arabien und die Solarzellen von der geopolitischen Krake in Peking: Unter ethischen Gesichtspunkten kann einem von diesem Potpourri übel werden, aber der Einfluss einzelner Handelspartner lässt sich verringern, wenn man mit mehreren Ländern Geschäfte macht.
Damit das funktioniert, müssen die EU-Staaten jedoch endlich koordiniert vorgehen und gemeinsam handeln. Der wichtigste Adressat dieser Erkenntnis ist ausgerechnet Kanzler Olaf Scholz, der sich selbst für den besten Küchenchef hält und am liebsten sein eigenes deutsches Süppchen kocht. Erfolg oder Misserfolg in der Klimapolitik ist der Maßstab, an dem er sich messen lassen muss, alles andere ist nachrangig. Gefährlich warm wird es sowieso. Aber unsere Kinder sollen wenigstens sagen können, dass es gerade noch mal gutgegangen ist.

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