Freitag, 3. Mai 2024

Buch „Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt“

 hier  29. Apr 2024  Von Martina Grüter

SciLogs » Babylonische Türme » Allgemein » Migration – wissenschaftlich betrachtet

Ist Europa das Ziel einer neuen Völkerwanderung? Oder ist das alles maßlos übertrieben und wir lassen uns nur irre machen? Politiker finden zu dem Thema nicht einmal eine gemeinsame Sprache und im Internet reden alle aufgeregt durcheinander. Deshalb ist es gut, dass der renommierte niederländische Soziologe und Migrationsforscher Hein de Haas ein Buch über populäre Mythen zur Migration veröffentlicht hast, um etwas mehr Substanz in die Diskussion zu bringen.

„Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt“ heißt das Buch auf deutsch. Im englischen Original heißt der Titel: „How Migration Really Works – A Factful Guide to the Most Divisive Issue in Politics“. Das klingt ähnlich professoral. Darf es auch: Hein de Haas hat eine Professur für Migration in Maastricht, und ist Professor für Soziologie und Geografie in Amsterdam. Laut Klappentext forscht er seit drei Jahrzehnten zum Thema Migration. Die Mythen, die er in seinem Buch widerlegen möchte, sind lieb gewordene Überzeugungen aus allen politischen Lagern.

 

Beispiele:

Die Migration bricht alle Rekorde (Mythos 1)

Die Welt steht vor einer Flüchtlingskrise (Mythos 3)

Unsere Gesellschaft ist vielfältiger denn je (Mythos 4)

Migration ist die verzweifelte Flucht aus dem Elend (Mythos 6)

Ausländer nehmen uns die Arbeit weg und drücken die Löhne (Mythos 8)

Zuwanderung ist das Allheilmittel für die Wirtschaft (Mythos 14)

Linke sind für, Rechte gegen Migration (Mythos 17)

Menschenhandel ist eine moderne Form der Sklaverei (Mythos 20)

Der Klimawandel entfesselt eine Völkerwanderung (Mythos 22)

Zu diesen Themen hauen Politiker und Aktivisten sich in allen Talkshows der Republik regelmäßig Zahlen und Statistiken um die Ohren, ohne sich jemals zu einigen

Die gute Nachricht: Es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse dazu. 

Die schlechte: Niemand scheint darauf zu hören. 

Das macht dieses Buch wichtig, aber natürlich bürdet das dem Autor auch eine ziemliche Last auf, schließlich legt er sich mit allen an, wenn er die vorgestellten Mythen wirklich widerlegen kann.

Was schreibt er also?


1. Die westlichen Staaten (also Europa, die USA und Kanada) brauchen ständig Arbeitskräfte. Das wissen auch die vielen Menschen, die sich aus Afrika, Asien und Südamerika auf den Weg machen.

Aber stimmt das überhaupt? Zumindest für England auf jeden Fall. Eigentlich sollte der Brexit verhindern, dass ständig EU-Bürger einwandern, und in ganzen Vierteln mehr Polnisch als Englisch gesprochen wurde. Aber seit dem Brexit ist die Einwanderung auf Rekordhöhe gestiegen. England braucht dringend Arbeitskräfte, aber die sollen nicht mehr aus der EU kommen, schließlich war man ja gerade deshalb ausgetreten. Das gelang auch. Dafür wanderten aus Nicht-EU-Ländern allein im Jahr 2022 mehr als 800.000 Menschen in das Vereinigte Königreich ein, ganz offiziell, mit Arbeits- oder Studentenvisa. Ob sich die Brexit-Befürworter das so vorgestellt hatten?

Wie sieht es denn hier aus? Die Bundesregierung möchte einen Job-Turbo für Asylbewerber zünden – und das scheint auch zu funktionieren. Schließlich suchen Gastronomen, Krankenhäuser und Pflegeheime händeringend Arbeitskräfte, was sich beispielsweise auch in der Türkei schon herumgesprochen hat.

O. K. da hat der Autor wohl recht. Der wichtigste „Pullfaktor“ ist genau dieser Arbeitskräftemangel. Und der spricht sich heute per Handy bis ins letzte afrikanische Dorf herum.


2. Migration ist eine überlegte Investition in eine bessere Zukunft und keineswegs eine verzweifelte Flucht aus dem Elend. Migranten sind mündige Menschen, argumentiert der Autor. Sie nehmen die Risiken sehenden Auges in Kauf.

„Aus der Vorstellung, dass Migranten durch falsche Versprechungen von Schleppern und Schleusern in den Westen gelockt werden, spricht vor allem das westliche Klischee der naiven und weniger vernünftigen Armen aus der ‚Dritten Welt‘, die vom Westen aufgeklärt werden müssen, dass es besser ist, wenn sie zuhause bleiben.“

Und ja, wenn man die Interviews mit Migranten sieht oder liest, ist das sicher richtig. Und weil die Migration viel Geld kostet (nein nicht nur uns, sondern die hoffnungsvollen Einwanderer), kommen auch nicht die Menschen aus der Unterschicht der afrikanischen Länder.

Und selbst die nach Europa migrierten Sexarbeiterinnen sind zum großen Teil freiwillig hier, sagt der Autor. Er sieht natürlich auch, dass illegale (oder auch legale) Immigranten oft genug ausgebeutet werden. Aber das Wissen um dieses Risiko hindert viele Menschen in Afrika, Asien oder Südamerika nicht daran, einer Schlepperorganisation einige Tausend Euro zu bezahlen, um nach Europa oder in die USA zu gelangen.

Die meisten abgelehnten Asylbewerber wollen auch keineswegs zurück, sondern hier Geld verdienen. Und ihre Heimatstaaten möchten sie auch gar nicht zurücknehmen. Die Überweisungen von Arbeitsmigranten macht in vielen armen Ländern einen wichtigen Teil des Lebensunterhalts der Menschen dort aus und ist wichtiger als die Entwicklungshilfe. Die kommt bekanntlich nicht unbedingt bei den Menschen an, die eigentlich davon profitieren sollen.


3. Schlepper sind keine Menschenhändler (oder gar Sklavenhändler). Sie bieten eine Dienstleistung an und die Migranten sind ihre Kunden. Preis und Leistung müssen stimmen, sonst macht die Konkurrenz das Geschäft. Aber können die potenziellen Kunden überhaupt vergleichen? Nochmal: Es gibt überall Smartphones. Überall. Auch hier gilt natürlich: Wo Geschäfte gemacht werden, gibt es Betrüger. Und nicht alle Kunden überleben die gefährliche Reise. Aber die Chancen stehen gut genug, um es zu versuchen. Und man bekommt das, was man bezahlt. Für reiche Kunden aus China oder dem arabischen Raum gibt es ein Rundum-sorglos-Paket ab 30.000 Euro. Wer 100.000 und mehr US$ investiert, kann auch einen Pass kaufen, der eine visafreie Einreise nach Europa garantiert.

Wenn die Grenzen schwerer zu überqueren sind, steigen die Preise. Aber deshalb muss der Strom der Immigranten nicht abebben. Es bleiben noch immer genug übrig, die auch die höheren Preise bezahlen können.

Natürlich weiß auch de Haas, dass es immer wieder Fälle gibt, in denen Migranten als Arbeitssklaven missbraucht werden. Aber diese Fälle sind eher selten und haben bisher kaum Menschen davon abgehalten, ihr Glück in Europa oder Nordamerika zu suchen.


4. Weder nimmt die Migration zu, noch wird der Klimawandel für eine beispiellose Migration sorgen.

Zwischen 1960 und 2017 bewegte sich die Zahl der internationalen Migranten zwischen 2,8 und 3,3 Prozent der Weltbevölkerung. Allerdings hat sich das Muster verändert. Europa erlebt seit einigen Jahrzehnten einen starken Zustrom von Migranten nichteuropäischer Herkunft. Das sieht de Haas als wichtigen Grund für die in Europa verbreitete Wahrnehmung an, dass die Migration „neue Höchstwerte“ erreicht. 

Deutschland, Österreich und die Schweiz erleben auch tatsächlich eine auffällig starke Migration. In Deutschland leben 23,9 Millionen Menschen (ca. 28 %) mit Einwanderungsgeschichte, rund 16 % haben keinen deutschen Pass. In der Schweiz lauten die Zahlen: 40 % und 26 %, für Österreich: 27,2 % und 19,7 %. 

Für alle, die es nicht bemerkt haben sollten: Wir sind längst eine internationale Gesellschaft. Wird sie durch den Klimawandel noch internationaler? Die Weltbank schätzte im Jahr 2021, dass 216 Millionen Menschen bis 2050 zur Flucht gezwungen sein könnten – allerdings innerhalb ihrer Länder. Der Bericht warnt aber: „Allerdings gingen Migrationsmuster von ländlichen zu städtischen Gebieten oft den grenzüberschreitenden Bewegungen voraus.“ 

De Haas kritisiert zurecht, dass die Weltbank nicht angibt, wie sie auf die Zahl gekommen ist. Und natürlich soll alles nicht so schlimm werden, wenn die Welt sofort den Ausstoß von Treibhausgasen reduziert. De Haas fährt fort:„Das apokalyptische Szenario der Klimaflucht scheint sowohl den Rechten als auch den Linken in die Karten zu spielen. 

Die Linken spielen mit der Angst vor einer Masseneinwanderung, um die Dringlichkeit von Klimamaßnahmen zu betonen, die Rechten verlangen die Abschottung der Grenzen. 

„Und Forscher … gewinnen die Aufmerksamkeit der Medien und Gelder.“ 

De Haas sieht nicht, dass der Klimawandel große Landstriche dauerhaft unbewohnbar macht (ohne Wasser wird es wohl schon schwierig werden in manchen Gegenden?). Im Gegenteil: Er kritisiert, dass Regierungen damit einen willkommenen Sündenbock für ihre eigene verfehlte Umweltpolitik bekommen.

 

Kritik und Zusammenfassung

Eins muss man Hein de Haas wirklich zugutehalten: Er räumt auf wissenschaftlicher Basis mit den Mythen aller Lager auf. Das wird keinem so recht gefallen, hat mir aber einen deutlich differenzierteren Blick auf das Problem verschafft. Aber natürlich hat de Haas auch eine politische Einstellung, und mit der hält er auch nicht hinterm Berg. Nicht billige ausländische Arbeitskräfte drücken die Löhne, sondern die Politik (Mythos 8). Deregulation, Schwächung der Gewerkschaften, Verlust von Einkommen, immer größere Ungleichheit usw.

Besserverdiener und Unternehmer profitieren am meisten von der Zuwanderung, Arbeitnehmer profitieren kaum. (Mythos 14). Zum Mythos 8 schreibt de Haas dagegen, dass Zuwanderung Arbeitsplätze schaffen kann. Was denn nun?

Und der Autor erhebt den alten Vorwurf des Rassismus, wobei er die verschiedensten Länder des Westens über einen Kamm schert. Der Begriff des Rassismus ist aber inzwischen so breitgetreten, dass er kaum noch eine Aussage hat. Für den noch schwammigeren Begriff „struktureller Rassismus“ gilt das erst recht. Misstrauen gegen Fremde ist allgemein in menschlichen Gesellschaften verbreitet, da muss man keinen Rassismus bemühen, oft reicht es schon, wenn Menschen aus dem nächsten Dorf stammen. Dass allein der Kontakt mit Fremden ausreicht, um Vorurteile abzubauen, wie de Haas schreibt, ist eher zweifelhaft. Nur die direkte Zusammenarbeit, privat oder im Beruf, hilft wirklich. Es geht auch nicht nur um außereuropäische Zuwanderer. In England herrschten lange Zeit deutliche Vorurteile gegen Iren, in Holland gegen Deutsche, in Deutschland gegen Polen.

Und bei inzwischen fast 30 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland werden Ungleichbehandlungen notwendigerweise zurückgehen.
Das konstatiert auch de Haas: „Wir dürfen vorsichtig optimistisch sein, dass wir in Zukunft besser und differenzierter mit Zuwanderung und Vielfalt umgehen werden.“
Dem kann ich mich anschließen.


Daten des Buchs:

Hein de Haas: Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt. S. Fischer Verlag Frankfurt, 2023, ISBN 978-3-10-397534-5

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