Krautreporter hier von James Dyke mit Robert Watson und Wolfgang Knorr
Manchmal kommt die Erkenntnis blitzschnell. Verschwommene Umrisse nehmen
Gestalt an, plötzlich ergibt alles einen Sinn. Aber dem voraus geht oft ein
viel langsamerer Abwägungsprozess: Im Unterbewusstsein wachsen die Zweifel, ob
die Dinge zusammenpassen. Bis etwas klick macht und stimmt – oder vielleicht
zerbricht.
Zusammengenommen haben wir drei Autoren dieses Artikels wohl mehr als 80
Jahre damit verbracht, über den Klimawandel nachzudenken. Warum also hat es so
lange gedauert, bis wir uns zu den offensichtlichen Gefahren des Konzepts der
Klimaneutralität – Netto-Null genannt – zu Wort melden? Zu unserer
Verteidigung: Die Grundannahme von Netto-Null ist einfach, täuschend einfach –
und wir geben zu, dass sie selbst uns in die Irre geführt hat.
Der Klimawandel ist eine direkte Folge davon, dass sich zu viel
Treibhausgase, in erster Linie Kohlendioxid (CO2), in der Atmosphäre befinden.
Daraus folgt: Wir müssen aufhören, mehr davon auszustoßen, und sogar CO2
entfernen.
Diese CO2-Entfernung ist zentraler Bestandteil des aktuellen Plans, eine
Katastrophe auf der Erde zu verhindern. Für die Umsetzung gibt es viele
Vorschläge, von der massenhaften Anpflanzung von Bäumen bis hin zu
Hightech-Geräten, die Kohlendioxid aus der Luft absaugen.
Derzeit herrscht Einigkeit darüber, dass wir die globale Erwärmung schneller
stoppen können, wenn wir Kohlendioxid mit bestimmten Techniken entfernen und
gleichzeitig die Nutzung von Brennstoffen wie Kohle, Erdöl und Gas reduzieren.
So werden wir hoffentlich um die Mitte dieses Jahrhunderts die „Netto-Null“,
also die Klimaneutralität erreichen. Das ist der Punkt, an dem alle
verbleibenden Emissionen von Treibhausgasen durch Technologien ausgeglichen
werden, die diese aus der Atmosphäre entfernen.
Theoretisch ist das eine tolle Idee. Leider trägt sie in der Praxis dazu bei, den Glauben an eine technologische Lösung aufrechtzuerhalten. Die Dringlichkeit nimmt ab, die Emissionen jetzt einzudämmen.
Wir glauben, dass die Idee der Netto-Null-Emissionen einen rücksichtslosen,
leichtfertigen Ansatz zugelassen hat nach dem Motto: „Jetzt verbrennen, später
bezahlen.“ Mit der Folge, dass der CO2-Ausstoß weiter angestiegen ist. Diese
Idee hat auch die Zerstörung der Natur durch ständig steigende Abholzung
beschleunigt und das Risiko erhöht, dass diese Zerstörung in der Zukunft
weitergeht.
Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass die Menschheit ihre
Zivilisation auf der Basis von Versprechen künftiger Lösungen aufs Spiel gesetzt
hat, müssen wir in die späten 1980er Jahre zurückkehren. Damals war auf
internationaler Bühne erstmals vom Klimawandel die Rede.
1988 hätten die
Menschen die Klimakrise noch verhindern können
......Leider haben sie (Anmerkung: die Modelle) auch die Notwendigkeit für tiefgreifendes kritisches Denken beseitigt. Solche Modelle stellen die Gesellschaft als ein Netz von idealtypischen, emotionslosen Käufern und Verkäufern dar und ignorieren damit komplexe soziale und politische Realitäten oder sogar die Auswirkungen des Klimawandels selbst. Sie gehen davon aus, dass marktbasierte Ansätze immer funktionieren werden. Folglich beschränkten sich die Diskussionen über politische Maßnahmen auf das, was für die Politiker am bequemsten war: Sie änderten schrittweise Gesetze und Steuern.
Ungefähr zu der Zeit, als die Modelle entwickelt wurden, gab es
Bestrebungen, die USA zu Klimaschutzmaßnahmen zu bewegen, indem man ihnen
erlaubte, die Kohlenstoffsenken der Wälder ihres Landes anzurechnen. Das
Argument der USA war: Bei guter Bewirtschaftung der Wälder sind sie in der
Lage, eine große Menge an Kohlenstoff in Bäumen und Böden zu speichern. Diese
Menge sollte von ihren CO2-Einsparzielen abgezogen werden....
Wer eine Zukunft mit mehr Bäumen postuliert, könnte die Verbrennung von
Kohle, Öl und Gas in der Gegenwart ausgleichen. Da Modelle leicht Zahlen
ausspucken konnten, die den Kohlendioxidgehalt so weit sinken ließen, wie man
wollte, konnten immer ausgefeiltere Szenarien erforscht werden. Gleichzeitig
nahm die wahrgenommene Dringlichkeit ab, den Verbrauch fossiler Brennstoffe zu
reduzieren. Durch die Einbeziehung von Kohlenstoffsenken in klimaökonomische
Modelle wurde die Büchse der Pandora geöffnet.
An dieser Stelle entstand die heutige Netto-Null-Politik.
„Es war für mich ein echter Schock zu erkennen, dass ich persönlich zur
Netto-Null-Falle beigetragen haben muss. ......Aber da keiner der
Co-Autoren unserer Studie ein Experte war, haben wir nicht berücksichtigt, wie
viele dieser künstlichen Senken nötig wären, um unser Wirtschaftssystem
aufrechtzuerhalten oder ob es überhaupt technisch möglich wäre, sie zu
schaffen.“
Wolfgang Knorr,
leitender Wissenschaftler
für Physische Geografie und Ökosystem-Wissenschaften an der Universität Lund,
Schweden
Mitte der 1990er Jahre lag das Hauptaugenmerk jedoch auf der Steigerung der
Energieeffizienz und der Umstellung auf andere Energieträger (zum Beispiel der
Umstieg von Kohle auf Gas) sowie auf dem Potenzial der Atomenergie, große
Mengen an kohlenstofffreiem Strom zu liefern. Solche Innovationen würden
hoffentlich den Anstieg der Emissionen fossiler Brennstoffe schnell umkehren.
Doch um die Jahrtausendwende zeigte sich: Diese Hoffnungen waren vergeblich.
Angesichts der Kernannahme eines stufenweisen Wandels wurde es für ökonomische
Klimamodelle immer schwieriger, gangbare Wege zu finden, um einen gefährlichen
Klimawandel zu vermeiden. Als Reaktion darauf begannen die Modellierer, immer
mehr Beispiele für die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid
einzubeziehen. CO2 sollte aus Kohlekraftwerken aufgefangen und dann tief unter
der Erde für unbestimmte Zeit gespeichert werden.
Dass dies grundsätzlich möglich ist, zeigte eine Reihe von Projekten seit
den 1970er Jahren. Dabei wurde komprimiertes Kohlendioxid von fossilem Gas
getrennt und dann in den Untergrund gepresst. Ziel dieser „Enhanced Oil
Recovery“-Programme war eigentlich, Gase über Bohrlöcher einzuspeisen, damit
das Öl zu den Bohrtürmen gedrückt wird und so mehr gefördert werden kann – Öl,
das später verbrannt wird, wodurch noch mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre
gelangt.
Die Weiterentwicklung „Carbon Capture and Storage“ (CCS) bot den Dreh, das
Kohlendioxid nicht mehr zur Förderung von Öl zu verwenden, sondern im
Untergrund zu belassen und es aus der Atmosphäre zu entfernen. Diese angeblich
bahnbrechende Technologie sollte klimafreundliche Kohle und damit die weitere
Nutzung dieses fossilen Brennstoffs ermöglichen. Doch lange bevor die Welt
Zeuge eines solchen Vorhabens wurde, war der hypothetische Prozess bereits in
klimaökonomische Modelle eingeflossen. Am Ende bot die bloße Aussicht auf
Kohlenstoffabscheidung und -speicherung den politischen Entscheidungsträgern
einen Ausweg, die dringend benötigte Verminderung des Treibhausgasausstoßes zu
verschieben.
Der Aufstieg der
Netto-Null (oder: 2009 sollte Biomasse als „Senke“ das Klima retten)
Als sich die internationale Klimagemeinschaft 2009 in Kopenhagen traf, war
klar: Kohlenstoffabscheidung und -speicherung würde aus mehreren Gründen nicht
ausreichen. Niemand hatte Anlagen zur Abscheidung und Speicherung von
Kohlendioxid in einem Kohlekraftwerk in Betrieb. Es war auch nicht abzusehen,
dass diese Technologie in naher Zukunft irgendeinen Einfluss auf die steigenden
Emissionen aus der zunehmenden Nutzung von Kohle haben würde.
Das größte Hindernis für die Umsetzung waren im Wesentlichen die Kosten. ..
Da die Hoffnungen auf eine Lösung der Klimakrise wieder schwanden, war ein
weiteres Wundermittel gefragt. Es musste eine Technologie her, die den Anstieg
der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre nicht nur verlangsamt, sondern
sogar umkehrt. Folglich griffen die klimaökonomischen Modellierer – die bereits
in der Lage waren, pflanzliche Kohlenstoffsenken und geologische
Kohlenstoffspeicher in ihre Modelle einzubeziehen – zunehmend auf die „Lösung“
zurück, diese beiden Auswege aus der CO2-Misere zu kombinieren.
So wurde die Bioenergie-Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (Bioenergy
Carbon Capture and Storage, BECCS) schnell zur neuen Rettungstechnologie. Indem
man „austauschbare“ Biomasse wie Holz, Feldfrüchte und landwirtschaftliche
Abfälle anstelle von Kohle in Kraftwerken verbrennt und dann das Kohlendioxid
aus dem Schornstein des Kraftwerks abfängt und unterirdisch speichert, könnte
BECCS Strom erzeugen und gleichzeitig Kohlendioxid aus der Atmosphäre
entfernen.....
Mit dieser neuen Lösung in der Hand gruppierte sich die internationale
Gemeinschaft nach wiederholten Misserfolgen neu, um einen weiteren Versuch zu
starten, unsere gefährlichen Eingriffe in das Klima einzudämmen. Die Bühne war
bereitet für die entscheidende Klimakonferenz 2015 in Paris.
Im Jahr 2015 kommen
Zweifel an den Fantasiewelten auf
....Nach wochenlangen, zermürbenden Verhandlungen auf höchster Ebene war in Paris endlich ein Durchbruch erzielt worden. Wider Erwarten hatte sich die internationale Gemeinschaft nach Jahrzehnten der Fehlstarts und Misserfolge endlich darauf geeinigt, das Nötige zu tun, um die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 Grad Celsius, am besten auf höchstens 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen.
„Sich auf ungetestete Mechanismen zur Beseitigung von Kohlendioxid zu
verlassen, um die Ziele von Paris zu erreichen, obwohl wir die Technologien
haben, um heute von fossilen Brennstoffen wegzukommen, ist schlichtweg falsch
und leichtsinnig.“
Robert Watson,
emeritierter Professor für Umweltwissenschaften, Universität von East Anglia,
Großbritannien
Man schätzt, dass BECCS zwischen 0,4 und 1,2 Milliarden Hektar Land
benötigen würde. Das sind 25 bis 80 Prozent aller derzeit bewirtschafteten
Flächen. Wie wollen wir das erreichen, wenn wir gleichzeitig 8 bis 10 Milliarden
Menschen in der Mitte des Jahrhunderts ernähren wollen? Wie, ohne die
einheimische Vegetation und Artenvielfalt zu zerstören?
Der Anbau von Milliarden von Bäumen würde riesige Mengen an Wasser
verbrauchen – teilweise an Orten, an denen die Menschen bereits durstig sind.
Eine zunehmende Walddecke in höheren Breitengraden kann mehr Erwärmung
bedeuten, weil die Landoberfläche dunkler wird, wenn Grasland oder Felder durch
Wälder ersetzt werden. Dieses dunklere Land absorbiert mehr Sonnenenergie, die
Temperaturen steigen. Und wer den Schwerpunkt auf die Entwicklung riesiger
Plantagen in ärmeren tropischen Ländern legt, riskiert, dass Menschen von ihrem
Land vertrieben werden.
„Der Vorläufer von Netto-Null wurde und wird immer noch Kompensation
genannt. Einst war ich voller Hoffnung, dass Kohlenstoff-Kompensationsprogramme
das Kunststück vollbringen könnten, intakte Waldökosysteme vor der fast
sicheren Zerstörung durch wirtschaftliche Entwicklung zu retten. Doch heute
erschrecken mich die Folgen von Netto-Null fast mehr als die der
Klimaerwärmung.“
Wolfgang Knorr
....
Neue Trugbilder
ersetzen fehlgeschlagene technische Lösungen
Als die Erkenntnis dämmerte, wie schwierig die Umsetzung von Paris
angesichts der ständig steigenden Emissionen und des begrenzten Potenzials von
BECCS sein würde, entstand in Politikerkreisen ein neues Schlagwort: das
„Überschreitungsszenario“. Danach dürfen die Temperaturen kurzfristig über 1,5
Grad Celsius steigen, müssen dann aber bis zum Ende des Jahrhunderts durch eine
Reihe von Maßnahmen zur Kohlendioxid-Entfernung gesenkt werden. Dies heißt,
dass Netto-Null eigentlich Kohlenstoff-negativ bedeutet. Innerhalb weniger
Jahrzehnte müssen wir unsere Zivilisation von einer Wirtschaftsweise, die
derzeit jährlich 40 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre pumpt, auf
eine umstellen, die netto 10 Milliarden Tonnen entfernt.
.....Es sollte nun klar werden, wohin die Reise geht. Wenn die Trugbilder einer magischen technischen Lösung verschwinden, taucht eine andere, ebenso untaugliche Alternative auf, um ihren Platz einzunehmen. Die nächste ist bereits am Horizont zu sehen – und sie ist sogar noch grauenhafter. Sobald wir erkennen, dass Netto-Null nicht rechtzeitig oder überhaupt nicht erreicht werden kann, wird wahrscheinlich Geo-Engineering – der absichtliche und großflächige Eingriff in das Klimasystem der Erde – beschworen werden als Lösung, um den Temperaturanstieg zu begrenzen.
„Es ist erstaunlich, wie die andauernde Abwesenheit einer glaubwürdigen
Technologie zur Kohlenstoffentfernung die Netto-Null-Politik nicht zu
beeinflussen scheint. Mittlerweile habe ich erkannt, dass wir alle einer Form
von Verarschung aufgesessen sind.“
James Dyke, Senior
Lecturer für Globale Systeme, Universität von Exeter, Großbritannien
Schwierige
Wahrheiten (oder: Netto-Null-Politik taugt nicht zur Begrenzung der
Erderwärmung)
Im Prinzip gibt es nichts Falsches oder Gefährliches an Vorschlägen zur
Kohlenstoffentfernung. .....
Problematisch wird es erst, wenn davon ausgegangen wird, dass diese Vorschläge in großem Maßstab eingesetzt werden können. Damit wird praktisch ein Blankoscheck für die weitere Verbrennung fossiler Brennstoffe und die zunehmende Zerstörung von Lebensräumen ausgestellt.....
Der einzige Weg, die Menschheit zu schützen, ist die sofortige und nachhaltige radikale Senkung der Treibhausgasemissionen auf sozial gerechte Weise.....
Es ist an der Zeit, unsere Ängste auszusprechen und gegenüber der
Allgemeinheit ehrlich zu sein. Die aktuelle Netto-Null-Politik wird die
Erwärmung nicht auf 1,5 Grad Celsius begrenzen, weil sie nie dazu gedacht war.
Sie wurde und wird immer noch von der Notwendigkeit angetrieben, Business as
usual zu schützen, nicht das Klima. Wenn wir die Menschen schützen wollen, dann
müssen wir die Kohlenstoffemissionen jetzt stark und nachhaltig reduzieren. Das
ist der ganz einfache Härtetest, der auf alle klimapolitischen Maßnahmen
angewendet werden muss. Für Wunschdenken ist es zu spät.
James Dyke ist Senior
Lecturer für Globale Systeme an der Universität Exeter in Großbritannien.
Robert Watson ist
emeritierter Professor für Umweltwissenschaften an der Universität von East
Anglia in Großbritannien.
Wolfgang Knorr ist
leitender Wissenschaftler für Physische Geografie und Ökosystem-Wissenschaften
an der Universität Lund in Schweden.
Ihren Artikel
veröffentlichten sie auf Englisch bei The
Conversation. Hier könnt ihr den Originalartikel
lesen.
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