Neue Verkehrskonzepte sollen Städte lebenswerter machen und dem Klima helfen – sorgen anfangs aber fast immer für heftigen Streit. Wenn die Effekte sichtbar werden, schwindet die Skepsis.
Der Ton wird schnell rau, wenn über autofreie Zonen oder eine City-Maut gestritten wird. .....
Dort, wo es trotzdem gelingt, beispielsweise eine City-Maut einzuführen, wächst von Jahr zu Jahr die Zustimmung. Das zeigen Studien, Umfragen und Langzeitbeobachtungen. Das Paradebeispiel der Verkehrsforschung ist Stockholm, wo sich die Bürger geradezu gegenseitig an die Gurgel gingen, als vor anderthalb Jahrzehnten über eine Gebühr für die Einfahrt in die Innenstadt diskutiert wurde. In London, Mailand und Madrid war es ähnlich.
»Tal des Todes«, nennt Jonas Eliasson das Phänomen. Der schwedische Mobilitätsforscher leitete einige Jahre die Verkehrsbehörde in Stockholm und untersucht seitdem die Langzeiteffekte von Instrumenten zur Verkehrslenkung. »Zum Start der City-Maut im Jahr 2006 war die Maßnahme in Stockholm extrem unpopulär. Als alle sehen und erleben konnten, was sie bewirkt, änderte sich das.« Später fanden zwei von drei Bürgern die City-Maut gut. In anderen Metropolen verlaufe die Entwicklung ganz ähnlich.
Die Zahl der Autos auf den Straßen in Stockholm sank zunächst um ein Fünftel, es gab weniger Staus, der Verkehr floss besser. Davon profitierten anfangs vor allem Autofahrende, die schneller an ihr Ziel kamen. »Es passierten weniger Unfälle, die Luft wurde besser. Die Einnahmen flossen zurück in das Verkehrssystem – in Straßenbau, Nahverkehr, Fuß- und Radwege«, erzählt Eliasson. Der Ausbau der Alternativen bewegte wiederum mehr Leute zum Wechsel vom Auto zu anderen Verkehrsmitteln. ....
»Weltfremd« und »lebensfern« sei die Idee, schallt es aus Teilen der Politik zurück, die auf die Umfragen schielt. Das sind vergleichsweise harmlose Reaktionen. In den sozialen Netzwerken rollt die Wutwelle. ....
»Es sind immer die gleichen reflexartigen Reaktionen«, sagt Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). »Da wird viel Unfug verbreitet, etwa dass solche Ansätze sozial ungerecht seien.« Das seien vorgeschobene Argumente, da ärmere Stadtbewohner in der Regel gar kein Auto besitzen. Ihnen würde aber der Ausbau des Nahverkehrs nützen, den eine City-Maut mitfinanzieren könnte. Der Verkehrsforscher hält Pilotversuche wie bei den Pop-up-Radwegen für sinnvoll, um die Auswirkungen sichtbar zu machen.
»Unsere Scheu vor Veränderungen ist meistens größer als unsere Vorstellungskraft, was diese bewirken können«, sagt Jonas Eliasson aus Stockholm. Status-quo-Verzerrung nennen Wissenschaftler dieses Festhalten am gegenwärtigen Zustand. Die Sorge, etwas zu verlieren, ist größer als die Zuversicht, etwas zu gewinnen. Auch Eliasson rät zu zeitlich begrenzten Experimenten, weil jede Stadt anders funktioniere.
....»Das vermeintlich Negative, wie der Wegfall von Parkplätzen, dominierte die Diskussion (Anmerkung: in Halle) Die positiven Potenziale, wie eine höhere Aufenthaltsqualität für alle, wurden dagegen nur angedeutet«, sagt der Soziologe. Anwohner und Ladenbesitzer bestimmten mit konkreten Sorgen die Schlagzeilen, die Vision blieb vage.
Die Stadt erarbeitet nun ein umfassendes Mobilitätskonzept, bei dem die Bürger stärker mitreden können. Die bislang fehlende Beteiligung gehörte zuvor zu den Kritikpunkten. Der Bürgerentscheid könnte so nicht das Ende, sondern erst der Anfang einer echten Debatte sein, glaubt Sackmann: »Vielleicht wurde in Halle nur der zweite vor dem ersten Schritt gemacht.«
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen