Sonntag, 8. August 2021

Wann kippt der Wahlkampf?

Spiegel Klimabericht vom 7.8.21

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in sieben Wochen wird ein neuer Bundestag gewählt. Die Zeit, in der wir uns gerade befinden, wird »Wahlkampf« genannt, ich erwähne das hier noch mal, weil ich nicht der Einzige bin, der davon noch so gut wie gar nichts spürt. Bisher wurde es nur dann wahrnehmbar kontrovers, wenn Streit über die echte Autorschaft von Buchpassagen entbrannte, sonst geht es so gemütlich zu, dass dem CDU-Kandidaten Armin Laschet unterstellt wird, er wolle gar »im Schlafwagen« ins Kanzleramt fahren.

Liegt das vielleicht an der überholten Tradition des deutschen Sommerlochs, oder mangelt es einfach an Themen, die nach Antworten der Bewerber verlangen?

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Letzteres sicher nicht – sogar ganz im Gegenteil, wie diese aktuelle Auswahl an Beispielen zeigt:

  • Diese Woche haben Forscher in der Fachzeitschrift »PNAS« einen beunruhigenden Befund vorgelegt: Messungen legen demnach nahe, dass im Norden von Sibirien der tauende Permafrostboden das extrem klimaschädliche Methan freisetzt. Bestätigt sich die Entwicklung, könnte das den Klimawandel noch einmal deutlich beschleunigen. Die Permafrostböden weltweit sind ein gigantischer Kohlenstoffspeicher, rund 20 Prozent der Landfläche der Erde sind davon bedeckt – und drohen zu tauen, wie Forscher immer wieder berichten.
  • Jetzt schon rasant schreitet die Schmelze am grönländischen Eisschild voran, wie Wissenschaftler vor ein paar Tagen meldeten. Der Eisschwund sei »massiv«, letztes Wochenende hieß es, es gebe Tage, an denen bis zu acht Milliarden Tonnen Eis verschwinden, das sei das Doppelte des üblichen Wertes im Sommer. Laut einer im Januar veröffentlichten europäischen Studie wird der Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um zehn bis 18 Zentimeter ansteigen – oder 60 Prozent schneller als bisher angenommen –, wenn der grönländische Eisschild so schnell schmilzt wie jetzt.
  • Die schweren Brände in Griechenland und der Türkei, aber auch die nach wie vor prekäre Lage im Westen der USA machen den Betroffenen vor Ort schwer zu schaffen. Allein das »Dixie-Fire« in Kalifornien hat mittlerweile eine Fläche größer als das Saarland niedergebrannt. Da Extremwetter wie Trockenheiten bei fortschreitendem Klimawandel zunehmen und auch die Brandgefahr steigt, darf die aktuelle Lage als lautes Warnsignal gewertet werden: Noch hat sich die Erde »erst« um global gemittelt rund 1,1 Grad erwärmt, dabei wird es aber nicht bleiben.

Derzeit spielt das Wetter an mehreren Orten der Welt gleichzeitig verrückt – und die Effekte verstärken sich gegenseitig. Brennen Wälder, wird gebundenes CO₂ frei, was die Erwärmung steigert, taut der arktische Permafrostboden und setzt Methan frei, wird die Atmosphäre weiter aufgeheizt, was die Schmelze antreibt.

Ab einem gewissen Punkt können Kipppunkte im Klimasystem ins Wanken geraten, ab dann können irreversible Prozesse in Gang gesetzt werden (wie weit dieser Prozess schon eingesetzt hat, ist Gegenstand der Titelgeschichte des neuen SPIEGEL, die ich Ihnen besonders empfehlen möchte).

Ein eigenes Klimaschutzministerium überzeugt nicht

Im Bundestagswahlkampf sind all diese Entwicklungen bisher kaum Thema. Nicht einmal die schwere Flut in Deutschland hat dazu geführt, dass die Klimakrise im Kandidatenrennen um das Kanzleramt eine größere Rolle eingenommen hat (warum das so ist und ob sich das noch ändert, haben wir diese Woche im Klimapodcast diskutiert).

Einzig der Vorschlag der Grünen im Falle eines Wahlsieges, ein eigenes, mit Vetorecht ausgestattetes Klimaschutzministerium gründen zu wollen, drang durch. Ein Vorschlag allerdings, der nicht überzeugt. Die Partei macht den gleichen Fehler wie viele Politikerinnen und Politiker zuvor: Klimaschutz in einem einzelnen Ressort anzusiedeln ist schon lange nicht mehr zeitgemäß, vielmehr müssen sich alle Ressorts – vom Außenministerium über Wirtschaft bis Verkehr und Gesundheit – für die Einhaltung der Pariser Ziele verantwortlich fühlen, wenn die Klimaneutralität bis 2045 gelingen soll. Zuvorderst das Kanzleramt.

Ein eigenes Ministerium für diese Querschnittsaufgabe sendet daher das falsche Signal. Wenn der Rest der Regierung die Füße hochlegt, wird auch ein aufgewertetes Klimaschutzministerium nicht viel bewirken.

Der Vorwurf an die Parteien, sie würden kaum relevante Themen setzen, ist schnell gemacht. Aber fordern die Wählerinnen und Wähler sie überhaupt ein? Ein paar Wochen bleibt dafür noch Zeit.

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Die Themen der Woche

Weltweite Dürren und Hochwasser: Wo das Klima kippt – und wo wir noch eine Chance haben
Die besten Wissenschaftler des Planeten haben ausgerechnet, welche konkreten Folgen die Erderwärmung hat: von der Eifel bis nach Sibirien. Die SPIEGEL-Titelstory.

Karrieren: »Last warning«
Arnold Schwarzenegger war Mr Universum, Schauspieler und Gouverneur von Kalifornien. Nun will er als Klimaaktivist mit Esel und Elektro-SUV die Welt vor einer Katastrophe bewahren. Ein Hausbesuch in Los Angeles.

»Klimabericht«-Podcast: Wo bleibt der Klima-Wahlkampf?
Auch mehrere Wochen nach den schweren Fluten will eine Debatte über die Klimakrise in Deutschland nicht recht Fahrt aufnehmen. Woran liegt das? Hören Sie die Analyse in unserem neuen Podcast »Klimabericht«.

Empörung über Erdoğan wegen Waldbränden: »Ich werde weinen vor Wut«
Verheerende Feuer bringen Präsident Erdoğan in Bedrängnis, viele Türken werfen der Regierung Untätigkeit vor: Sie besitzt kein einziges funktionsfähiges Löschflugzeug. Und der Staatschef? Wirft Teebeutel auf Passanten.

Tauender Permafrostboden in Russland: Forscher entdecken Gefahr durch unterirdische Methanspeicher
In Sibirien haben Forscher erhöhte Konzentrationen von Methan in der Luft festgestellt. Der Gasausstoß stammt vermutlich nicht von Mikroben, sondern aus unterirdischen Höhlen – und könnte den Klimawandel verschärfen.

Temperaturen von mehr als 20 Grad: Grönländischer Eisschild schmilzt massiv ab
Weil es in Grönland ungewöhnlich warm ist, schmelzen dort Polarforschern zufolge jeden Tag acht Milliarden Tonnen Eis – das würde reichen, um ganz Florida fünf Zentimeter unter Wasser zu setzen.

Hochwasserschutz: Deutschland kann von Bangladesch lernen
Monsun, Wirbelstürme, Überschwemmungen: Bangladesch erlebt regelmäßig extremes Wetter und hat seinen Katastrophenschutz darauf eingestellt. Was Deutschland davon übernehmen könnte, erklärt der Klimatologe Saleemul Huq.

Klimaschutz: Forschungsministerin Karliczek bringt Ende innerdeutscher Flüge ins Spiel
Umweltschützer fordern bereits seit Langem, Kurzstreckenflüge innerhalb Deutschlands abzuschaffen. Inzwischen gilt diese Position auch in der CDU nicht mehr als abwegig.

Mit alter Infrastruktur im Revier: Diese Frau will das Ruhrgebiet zur Wasserstofffabrik Deutschlands machen
Die RWE-Managerin Sopna Sury will das Ruhrgebiet in eine Vorzeigeregion für ökologischen Wasserstoff verwandeln. Helfen sollen ihr dabei ausgerechnet die Überbleibsel des fossilen Zeitalters.

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Bleiben Sie zuversichtlich

Ihr Kurt Stukenberg

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