Vor einiger Zeit lief eine
Meldung um die Welt, nach der China in den Jahren 2011 bis 2013 mehr Zement
verbaut hat als die USA im gesamten 20. Jahrhundert. 6,6 Milliarden Tonnen
gegenüber 4,5 Milliarden. Es war eine dieser typischen Nachrichten aus China,
bei denen einem der Atem stockt. Man hatte kurz das Empire State Building und
all die anderen Wolkenkratzer und Skylines der amerikanischen Städte vor Augen,
die achtspurigen Highways und Staudämme, und konnte es kaum glauben.
In China soll die Hälfte der Infrastruktur erst in diesem Jahrtausend
entstanden sein. Knapp 24.000 Staudämme. 100.000 Autobahnkilometer seit 2006.
Bis 2035 sind mehr als 200 neue Flughäfen angekündigt. 30.000 Kilometer
Schienen für Hochgeschwindigkeitszüge hat China errichtet, rund zwei Drittel
der globalen Gesamtlänge. Übermacht über Nacht.
Und dann Deutschland: Vor einigen Wochen erschienen gut 130 Seiten über die
Zukunft des Landes. Das Wahlprogramm der Grünen, die erstmals ins
Kanzleramt streben. Auch diese Seiten waren voller Pläne und Zahlen, es ging um
Investitionen und Innovationen. Auch hier soll gebaut werden, Schienen,
Glasfaser, eine Million neue Solardächer in den kommenden vier Jahren. Wer die
Seiten genau liest, erfährt aber viel von Reduktion, Runterfahren, Ausstieg.
Verbrennermotor, Öl, Kohle.
Auf Seite 23 steht: „Wir wollen auch den Ausstieg aus dem Kies- und Sandabbau
vorantreiben.“ Kurzstreckenflüge, steht auf Seite 20, „wollen wir bis 2030
überflüssig machen“. Alle Gesetze bekommen eine „CO2-Bremse“, alle Vorhaben
eine „Klimaverträglichkeitsprüfung“. In dem Land, in dem diese Sätze in einem
Programm stehen, wird nachgedacht, wie viel überhaupt noch gebaut werden soll,
wie viel Fläche „gefressen“ wird, ob man wieder Urwälder schafft und ob ganze
Häuser für eine Familie noch zeitgemäß sind.
Wer diese Zahlen liest, die Projekte und Pläne, spürt eine unglaubliche
Spannung, die den Globus erfasst hat, ein Konflikt, eine Unwucht, vielleicht
auch Unglauben und Ohnmacht: 6,6 Milliarden Tonnen Zement innerhalb von drei
Jahren. Der Ausstieg aus Kies- und Sandabbau. Über 200 neue Flughäfen. Keine
Kurzstreckenflüge mehr. Wie passt das zusammen?
Alle Zahlen gehören zu diesem Planeten, und vermutlich sind die Zementberge in
Asien die Symbole und Mahnzeichen eines langen Jahrhunderts, bei dem es vor
allem um Wachstum ging, ungezügelt, hungrig, um eine gigantische Aufholjagd.
Wohlstand für Milliarden Menschen, Milliarden in die Mittelschicht. Und die
Vision, dass man weniger Flächen mit Beton zubaut, dass man weniger versiegelt
und weniger ausgräbt und ausbeutet, verändert diese Wachstumsgeschichte. Sie
hört nicht auf, im Gegenteil. Sie wird komplexer, herausfordernder.
Der Drang, diesen Planeten mit immer neuen Straßen, Häusern und Flughäfen
zuzupflastern, wird gebremst durch eine viel größere Dringlichkeit: genau dies
nicht mehr zu tun – und trotzdem zu wachsen.
Während die Menschheit die
schlimmsten Folgen einer Pandemie abschüttelt und wieder reisen, ausgehen und
leben will, wird uns bewusst, dass eine andere Uhr weitergelaufen ist, eine
Uhr, die eigentlich rückwärts läuft:
Es ist die Menge an Treibhausgasen, die wir noch ausstoßen können, um den
Anstieg der Temperatur auf unter zwei Grad zu bremsen. Je nach Studie, Ziel und
Wahrscheinlichkeit zwischen 400 und 1000 Gigatonnen. Derzeit ist die Menschheit
bei gut 40 Gigatonnen pro Jahr, die Coronakrise wird eine kleine Delle geben,
keine Verschnaufpause.
Wenn man umsteuern will oder muss, erwartet uns bis 2030 eine Transformation,
eine Kraftanstrengung und Mobilisierung, die vieles in den Schatten stellen
wird, was wir als Gesellschaft und Wirtschaft erlebt haben: Kriegsproduktion,
Rohstoffkrisen, Finanzkrisen, Automatisierung, Digitalisierung. Es ist eine
Umwälzung, die gleichzeitig nach vorn und zurück muss, die reduzieren und
ausbauen muss.
Es ist mehr als ein Update, die Wirtschaft bekommt ein neues
Betriebssystem, in dem Innovation und Effizienz, Ausbau und Abbau, mehr und
weniger und sogar null parallel erfolgen müssen. Es muss Technologieschübe und
-sprünge geben, die in ihrer Bedeutung und Wucht die Suche nach einem
Corona-Impfstoff übertreffen.
Man könnte in diesen Tagen meinen: Die Menschheit ist auf einem guten Weg. Alle
wollen doch jetzt weniger fliegen und pendeln! Es fahren immer mehr E-Autos auf
den Straßen, und fast jede Woche verdonnert ein Gericht einen Ölkonzern oder
ein Land wie Deutschland zu mehr Klimaschutz.
Überall werden „Green New Deals“
verkündet, Milliarden für Wasserstoff und Windkraft. „Der Klimawandel ist das
Vehikel für eine grüne Erholung“, sagt Achim Steiner, Chef des
UN-Entwicklungsprogramms. Läuft also? Nicht wirklich. Um mal einen
Pandemievergleich zu bemühen: Wir sind noch nicht mal im Lockdown light, und
„Operation Warp Speed“ fürs Klima wurde noch gar nicht gestartet.
Die meisten Simulationen für den Großumbau laufen bis 2050, aber bis 2030
müssen viele Ziele erreicht und Weichen gestellt sein, weil der Klimawandel
sonst nicht mehr aufzuhalten sein wird. Und deshalb erwartet uns ein grünes
Jahrzehnt. Für Deutschland heißt das: Nach dem „goldenen Jahrzehnt“, wie die
Phase von 2011 bis 2019 genannt wird, in der die Wirtschaftsleistung um knapp
eine Billion Euro auf rund 3,4 Billionen anschwoll und Wohlstand und Löhne auf
breiter Front wuchsen – nach diesen goldenen Jahren erwartet uns die grüne
Dekade.
Natürlich gilt das für die ganze Welt, aber als viertgrößte Industrienation, das Land der Autobauer und Ingenieure, steht Deutschland vor einer ganz besonderen Transformation.
Es steht mehr auf dem Spiel, wir haben mehr zu verlieren. Und vielleicht viel zu gewinnen.
„Wir legen mit diesem Bundestagswahlprogramm eine Vitaminspritze für dieses
Land vor“, hat Robert Habeck, der Grünen-Chef, im Frühjahr gesagt. Sie wolle
das Land „entfesseln“, sagte Annalena Baerbock, die Kanzlerkandidatin. Auch
CDU-Chef Armin Laschet will das Land irgendwie erneuern, ohne aber den
Wohlstand zu gefährden; die FDP mit mehr Glasfaser und ohne höhere Steuern, die
SPD endlich ohne die CDU.
Das Land hungert nach Aufbruch, Neuanfang, Wagnissen
und großen Würfen.
Wenn man es genauer besieht, ist das Kernverprechen für das grüne Jahrzehnt
aber ein anderes:
Es ist nicht das unbedingte Versprechen, dass es den Menschen
besser gehen wird. Seit Jahrzehnten gibt es dieses Versprechen in verschiedenen
Variationen: als Aufstiegschance, Recht auf Teilhabe, ein Haus, ein Auto,
Bildung, sicherer Job, soziale Absicherung, Wohlstand für alle eben.
Der Weg zur Klimaneutralität ist kein Heilsversprechen, keine Verheißung, kein
Aufstiegs- und Wohlstandsversprechen. Was nicht heißt, dass es kein Wachstum
geben wird, im Gegenteil. „Klimaschutz ist der Hauptmotor des Wachstums“, sagt
der britische Ökonom Nicholas Stern, unter dessen Leitung die Weltbank bereits
2006 den bekannten „Stern-Report“ übers Klima verfasste. „Er ist die
Wachstumsgeschichte für das 21. Jahrhundert.“ Schon damals kam Stern zu dem
Schluss, dass die Weltwirtschaft, wenn nichts getan wird, zwischen fünf und bis
zu 20 Prozent ihrer Größe einbüßen könnte.
Es ist aber eine Zukunft, die eine Katastrophe vermeiden will, eine Zukunft
voller Kipppunkte, Reduktionsziele, Restlaufzeiten und CO2-Budgets. Es ist
Blut, Schweiß und Tränen bis 2050. Eine weitere Form der Alternativlosigkeit.
Bisher weihen Politiker Bahnstrecken ein, machen Spatenstiche für Flughäfen. Es
geht um mehr. Das Ritual können sie künftig bei Gigafactories und
CO2-Waschanlagen machen. Die Botschaft wird dann sein: weniger. Weniger CO2.
Demokratien, die über Jahrzehnte mit diesem Ziel hantieren, müssen neue Formen
von Vertrauen, Resilienz und Durchhaltevermögen schaffen, die jeden
Corona-Lockdown in den Schatten stellen. Aber nehmen wir einmal an, dass es gelingt.
Wir reden dann über kein Ziel, das 2050 abgehakt ist, so à la „Mission
Accomplished“. Es muss dann jedes Jahr erreicht werden, für immer. Eine
politische Kommunikation, die eine Gesellschaft darauf einschwört, muss sich
vollkommen neu erfinden.
Die nächsten zehn Jahre werden uns zwar auch als großartige Story verkauft,
aber mal ehrlich: Es wäre sehr viel einfacher und angenehmer, wir müssten das
alles nicht tun und könnten das alte Leben wie bisher weiterführen.
Diese Tage sind voll von großen Plänen. Etwa in Kalifornien, wo die Regierung
gerade ein Gebiet im Pazifik für einen riesigen Windpark freigegeben hat: 1000
Quadratkilometer. 4,6 Gigawatt, Strom für 1,6 Millionen Haushalte, das
Energieministerium gibt als Erstes 100 Mio. Dollar Zuschuss für die
Entwicklung. Von einer „historischen Ankündigung“ sprach Gouverneur Gavin
Newsom, einem „Wendepunkt“. Klingt groß. Aber nicht groß genug.
Was wäre, wenn wir pro Tag einen Solarpark errichten müssten so groß wie im
indischen Bhadla, wo auf 5700 Hektar Solaranlagen 2,25 Gigawatt Strom erzeugen?
Zum Vergleich, ein durchschnittliches deutsches Kernkraftwerk hat eine Leistung
von knapp 1,5 Gigawatt. Oder 20 Gigafabriken pro Jahr, damit die
Batterieproduktion für E-Fahrzeuge von heute 160 Gigawattstunden auf 6600 im
Jahr 2030 steigen kann?
Diese Zahlen stehen in einem Bericht der Internationalen Energieagentur (IEA),
deren Report „Net Zero by 2050“ im Mai für Aufsehen sorgte. Die IEA ist seit
Jahren für ihren „World Energy Outlook“ bekannt, in dem es vor allem um
Prognosen für fossile Brennstoffe geht, Kohle, Öl, Gas. In diesem Jahr legte
die IEA einen globalen Fahrplan zur Klimaneutralität bis 2050 vor.
Interdisziplinär erforscht, eine Metastudie, 400 Meilensteine.
Die bittere Erkenntnis: Der Pfad zur Klimaneutralität ist verdammt schmal.
Fatih Birol, Chef der IEA, sprach von „der größten Herausforderung, der sich
die Menschheit je gestellt hat“. Um Netto-Null-Emissionen zu erreichen, „müssen
sich alle Regierungen auf ein einziges, unerschütterliches Ziel konzentrieren
und miteinander sowie mit Unternehmen, Investoren und Bürgern
zusammenarbeiten.“ Für Schlagzeilen sorgte vor allem ein Befund: Jede Suche und
Erschließung nach neuen Öl- oder Gasfeldern muss weltweit sofort eingestellt
werden. Eine Woche später erging in Den Haag das historische Urteil gegen
Shell.
Die Investitionen, die die IEA skizziert, sind gewaltig – dagegen ist Olaf
Scholz’ Corona-Bazooka ein Knallfrosch. Schon bis 2030 müssen wir die
Weltwirtschaft, die bis dahin 40 Prozent gewachsen sein wird, mit sieben
Prozent weniger Energie fahren. Die Energieeffizienz muss bis 2030 pro Jahr um
das Dreifache steigen. 2050 wird das globale BIP doppelt so groß sein und
werden zwei Milliarden mehr Menschen auf dem Planeten leben – wir müssen aber
mit acht Prozent weniger Energie auskommen.
Es brauche eine „Welle an Investitionen“, so die IEA, für den Umbau der
Energieerzeugung, der Industrie, des Transports und von Gebäuden. Konkret
bedeutet das: Ab 2030 müssen wir pro Jahr Windräder mit einer Leistung von 390 Gigawatt
errichten. Das ist viermal so viel, wie 2020 hinzugebaut wurde. Die
Gesamtleistung aller bereits installierten Windräder beträgt rund 750 Gigawatt.
630 Gigawatt brauchen wir pro Jahr mehr an Solarenergie – das ist der besagte
indische Solarpark pro Tag. 2020 waren wir je nach Quelle bei 115 bis 127
Gigawatt. Deutschland schaffte 4,9, gut doppelt so viel wie der indische
Solarpark.
Damit ist es nicht getan: Die jährlichen Investitionen in Netze müssen für das
Netto-Null-Ziel von 260 Mrd. Dollar auf 820 Mrd. Dollar im Jahr 2030 steigen;
die Zahl der öffentlichen Ladestationen für E-Autos von einer Million auf 40
Millionen 2030 und 200 Millionen 2050. Effiziente elektrische Wärmepumpen
werden unsere Räume heizen, derzeit werden pro Monat etwa 1,5 Millionen
installiert, ab 2030 müssen wir auf fünf Millionen im Monat kommen. 100
Millionen Solaranlagen brauchen wir 2030 auf Dächern, heute sind es 25
Millionen.
In die gesamte Energiegewinnung, -erzeugung und -verteilung muss viel mehr Geld
fließen, ab 2030 pro Jahr 5 Billionen Dollar. Es ist eine gewaltige Umlenkung
von Kapitalströmen, eine Änderung von Wertschöpfung, wie ein Blutaustausch in
einem kranken Körper.
Eine Studie von McKinsey über Europas Pfad zur Klimaneutralität kommt auf
ebenso gewaltige Summen: Knapp 1 Billion Euro Investitionen pro Jahr bis 2030,
davon müssen 800 Mrd. Euro an Investitionen, die heute in kohlenstoffintensive
Technologien fließen, umgelenkt werden. Zusätzlich müssten 180 Mrd. Euro
mobilisiert werden. Zum Vergleich: Der Corona-Hilfsfonds, der gewaltigste Topf
der europäischen Integration, ist 750 Milliarden schwer, und alle Länder planen
gerade eifrig, wie sie das Geld sinnvoll einsetzen.
Es gibt Berechnungen, die für Schlagzeilen sorgen und die Anstrengung
relativieren. Der UN-Klimareport etwa nennt Investitionen in Höhe von 8,1
Billionen Dollar bis 2050, „nur 0,1 Prozent des globalen BIP“. Bis 2030 müsste
man die Investitionen verdreifachen, auf 350 Mrd. Euro pro Jahr. Hier aber geht
es um Investitionen in die Natur, in Ökosysteme.
Entwarnung immerhin gibt es beim Dauerangstthema Jobs: Allein der grüne Umbau
der europäischen Wirtschaft könnte unterm Strich fünf Millionen zusätzliche
Arbeitsplätze schaffen: Während sechs Millionen Jobs verloren gingen,
entstünden in Zukunftsbranchen elf Millionen neue, so McKinsey. Die IEA kommt
für die Weltwirtschaft auf 14 Millionen neue Jobs für die saubere
Energiewirtschaft und 16 Millionen Arbeitskräfte, die allein für den ganzen
Austausch der Infrastruktur benötigt werden.
Alle diese Rechnungen setzen immer voraus: Das Geld fließt, wird abgerufen –
und dann sinnvoll verbaut. Für Deutschland, das Land der vollen Töpfe, seien
sie für Kitas, die Digitalisierung der Schulen oder Breitband, wird das eine
Mischung aus Modernem Fünfkampf und Triathlon. Bereits 2018 resümierte eine
BCG-Studie über „Klimapfade für Deutschland“, dass unser Land Mehrinvestitionen
in Höhe von 1,5 bis 2,3 Billionen Euro bis 2050 brauche, im Schnitt 1,2 bis 1,8
Prozent der Wirtschaftsleistung.
In den Simulationen ist immer eines eingepreist: Dass alle Menschen mitziehen
und ihr Verhalten anpassen. Alle. Weniger Fleisch essen, weniger fliegen, mehr
recyceln – ein globales Tempolimit von 100 km/h im Jahr 2030, Verbrennerautos
werden aus großen Städten verbannt, ein Stopp aller Kurzstreckenflüge im Jahr
2050 sowie ein Luftverkehr, eingefroren auf dem Niveau von 2019,
Heiztemperaturen zwischen 19 und 20 Grad in Räumen ab 2030. Ein Verbot von
neuen fossilen Heizkesseln ab 2025.
Der Unternehmer Ugur Sahin hat viele schöne Sätze über seine Suche nach dem
Impfstoff gesagt. Der einfachste Satz aber lautete: „Wir haben gesehen, dass
wir helfen können, und die Pflicht gefühlt zu helfen.“ Sahin und seine Frau
Özlem Türeci sind glaubwürdig, vor allem aber sind sie im Streben eine Ausnahme.
Reden wir mal nicht über Tesla, reden wir über Amazon, Apple, Facebook, Google,
Netflix, Uber, die Titanen der ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts.
Gerne auch über die europäischen Aufsteiger: Zalando, Delivery Hero, Hello
Fresh.
Sie schufen schöne Produkte und mächtige Plattformen, vernetzten die Welt,
brachten Spaß, Zugang und Bequemlichkeit und neue Technologien. Sie sagten oft,
dass sie die Welt nicht nur erobern, sondern verbessern wollen. Der Planet aber
hat sie im Grunde nie interessiert. Ihre Paketlieferungen und Retouren
verstopfen die Straßen, ihre Essensboxen produzieren Müll, ihr Datenhunger und
ihre Rechenzentren fressen Energie. Etwa 80 Prozent des Stromverbrauchs, der
durch das Internet anfällt, werden allein durch Videostreaming verursacht, rund
200 Milliarden Kilowattstunden Strom pro Jahr für den unendlichen Spaß.
All diese Unternehmen, die auf Konferenzen gepriesen und in Case-Studys
gefeiert wurden, haben eines nie getan: eine Lösung für eine große
Menschheitsaufgabe zu suchen wie Biontech.
Google hatte ein paar Moonshots,
okay. Und Tesla bleibt die Ausnahme.
Die Frage also heißt: Wird es neue Titanen geben? Neue Helden und Stars, die CO
speichern, waschen, einfangen, die bessere Brennstoffzellen und Batterien
erfinden, Verfahren für Wasserstoffelektrolyse, Ideen für Geo- oder
Climate-Engineering, synthetische Kraftstoffe, künstliche Algen, künstliche
Bäume, künstliche Vulkane, Siliziumscheiben im All und Schwefelschirme?
Heute sind das oft Spinnereien von Wissenschaftlern, wilde Visionen und
Prototypen von Start-ups. Klar, es gibt neue Unicorns: Lilium, Northvolt,
Arrival, Firmen mit hoffnungsvollen Technologien wie die
Carbon-Capture-Start-ups Climeworks oder Global Thermostat, die
Indoor-Farming-Firma Plenty oder den E-Fuel-Produzenten Ineratec aus Karlsruhe.
Es gibt Listen mit hoffnungsfrohen Start-ups, wo bisweilen nur der Name verrät,
wo die Reise hingeht: Next Kraftwerke, Kraftblock, Planetly, Ekomo, Cirplus,
Citkar, Zolar, Solytic, Instagrid, Refurbed. Welches wird Produkte eines
Weltunternehmens schaffen?
Denn 2050 muss die Hälfte der CO2-Reduktion von Technologien kommen, die heute
noch nicht marktreif sind, es aber bis 2030 werden müssen: Produkte in der
Batterietechnik, Wasserstoff-Elektrolyse, Verfahren zur Abscheidung und
Speicherung von CO2 aus der Luft. 90 Mrd. Dollar müssten bis 2030 pro Jahr in
Forschung und Entwicklung gesteckt werden, so die IEA. Derzeit sind es 25 Mrd.
Dollar.
2018 kam die Klimastudie von BCG über Deutschland zu dem Schluss, dass eine
Reduktion der CO2-Emissionen von 80 Prozent bis 2050 „technisch möglich und in
den betrachteten Szenarien volkswirtschaftlich verkraftbar“ sei. 95 Prozent
allerdings seien „an der Grenze absehbarer technischer Machbarkeit und heutiger
gesellschaftlicher Akzeptanz“. Vor allem aber: Es ginge nur mit Gamechangern,
sprich neuen Technologien.
Wir brauchen Hunderte Ugur Sahins und Özlem Türecis.
Wer modern sein wollte im vergangenen Jahrzehnt, musste „digital“ sein. Wer
etwas auf sich hielt, plante eine Pilgerreise ins Silicon Valley, um dort Obst
in der Kantine von Facebook zu essen. Er zog den Schlips aus und Turnschuhe an,
gründete ein Innovationslabor in Berlin, hing auf Konferenzen wie der SXSW in
Austin, der Münchner DLD oder dem Web Summit in Lissabon herum. Auf diesen Bühnen
gab es die ewig gleichen Formeln und Mantras: Embrace change. Disrupt yourself.
Change or die.
Besonders die letzte Formel könnte man als Losung in das grüne Jahrzehnt
retten, freilich mit ganz anderem Kontext. Was in den 10er-Jahren die
Digitalisierung war, wird in den grünen Zwanzigern die Nachhaltigkeit. Es wird
neue Pilgerorte geben, große Industrieanlagen mit CO2-Speichern oder
Stahlwerke, in denen „grüner Stahl“ produziert wird. Wo der oder die CEO auf
der Bühne erzählt, wie grün die eigene DNA ist und wie viele Bäume das
Unternehmen pflanzt. Der CO2-Fußabdruck ist das neue Selfie. Warum das wichtig
ist?
Es wird bei dieser Transformation wieder jede Menge Theater geben, wie schon
bei der Digitalisierung. Jede Menge Show und Sprachblasen, die mit Greenwashing
nur unzureichend beschrieben sind. Also muss man die Scheinwerfer abschalten
und den Vorhang beiseiteziehen. Fototermine mit Annalena Baerbock ersetzen
keine Nachhaltigkeitsstrategie.
Es wird allerdings einen Unterschied geben: Die Fortschritte wird man hart
messen können. Die Digitalisierung konnte man inszenieren und verschlafen, es
ging aber immer um das eigene Überleben des Unternehmens. Im Grunde war es
seine Sache, wenn der Produktvorstand einer Versicherung auf einer
Digitalkonferenz abhing, zu Hause aber nicht mal die App für die
Vertragsverwaltung programmiert bekam. Das wird bei dieser Transformation
anders sein. Da haben alle ein Interesse, dass jedes Unternehmen sich ändert.
Es wird nicht viel Zeit für Theater sein.
Ein Unternehmen ohne Nachhaltigkeitsstrategie hat gar keine Strategie. CEOs
werden ihre CO-Daten Scope-1 bis -3 so auswendig runterrattern wie ihr EBIT.
Schon lange wird geunkt, dass der Klimaschutz nicht allein in Szenecafés der
Szeneviertel entschieden wird, wo nur noch Hafermilch ausgeschenkt wird, nicht
in Kleiderkreiseln und noch nicht mal auf deutschen Autobahnen. All das wird
wichtig sein, ein Beitrag.
Die großen Hebel indes sind neben dem Ausstieg aus fossilen Brennstoffen der
CO-Preis, der Emissionshandel und die Umschichtung in den globalen Portfolios.
Geld passt sich an, schnell und emotionslos, und wenn der Rahmen und die
Regulierung stehen, wird Kapital nicht mehr in schmutzige Projekte fließen. Die
Umlenkung der globalen Kapitalströme ist elementar.
Es kommt aber noch etwas
anderes hinzu: die anderen Megatrends. Auch die bleiben.
Eine Milliarde Menschen werden bis 2030 in die Mittelschicht aufsteigen, der
größte Markt wird China sein. Dann aber auch: Südasien und große Teile Afrikas
– China wird da schon wieder schrumpfen. Eine Milliarde neue
Mittelschichtsmenschen werden Autos haben wollen, Kleidung, Elektrogeräte,
Häuser. Sie werden verreisen wollen, ausgehen und Spaß haben.
Mauro F. Guillén, der an der Wharton School der University of Pennsylvania
lehrt, beschreibt diese Verschiebung in seinem Buch „2030“ als einen mehrerer
großer Trends, die neben dem Klimawandel bis 2030 „das Ende der Welt, wie wir
sie kennen“ herbeiführen.
„Die Weltwirtschaft wird dann erstmals in der
Geschichte von nicht westlichen Konsumenten geprägt sein“, so Guillén. „Statt
der Simpsons werden wir vielleicht die Abenteuer der Singhs, der Wangs und der
Mwangis schauen.“ Er schreibt über den neuen „Graumarkt“: dass Konsumenten im
Westen rapide altern, mit neuen Produkten und Bedürfnissen.
2030 werde es mehr
Großeltern als Enkel auf der Welt geben. Es gibt also weitere Megatrends, die
fortschreiten wie der Klimawandel, und Entscheidungen, die wir dort treffen,
werden auch das Klima prägen.
Wer sich die Wachstumsprognosen für Asien und Afrika anschaut, sieht, wie sehr
die Bedeutung vor allem von Europa abnimmt. Und Wachstum geht immer mit
Energiehunger einher. Nirgendwo wird das so deutlich wie beim Rohstoff Kohle,
denn in Asien werden immer noch Kohlekraftwerke geplant. Zwar wurden 2020 Planungen
im Volumen von 60 Gigawatt in Vietnam, Indonesien, den Philippinen und
Bangladesch eingedampft – zum Vergleich: Deutschland strebt mit dem
Kohleausstieg einen Zielwert von 30 Gigawatt 2022 an. China aber baut weiter:
2020 sind neue Kohlekraftwerke mit einer Leistung von gut 38 Gigawatt in
Betrieb gegangen, mehr als das Dreifache dessen, was der Rest der Welt (11,9
Gigawatt) neu ans Netz genommen hat.
Was folgt aus alldem? Schafft die Menschheit diesen Kraftakt? Wer auf Chinas
Zementberge, auf die Schienen, Staudämme und Wolkenkratzer schaut, würde sagen:
Es ist möglich, solche Mengen an neuer Infrastruktur in Rekordzeit zu
errichten. Mit viel Geld, viel Arbeit, anderem Baurecht – und oft gegen den
Willen von Menschen. Wer auf die Pandemie blickt, wird ermutigt und zugleich
ernüchtert: Hier gab es „Operation Warp Speed“, ja hier wurden Billionen
mobilisiert, in Rekordzeit wird gerade eine globale Impfproduktion errichtet.
Wir können schnell sein und viel schaffen.
Es fehlten aber die Koordination und der globale Wille zur Kooperation. Jedes
Land war anders getroffen, und jedes Land half sich zuerst. Die Pandemie hat
uns Grenzen und Möglichkeiten aufgezeigt. Es ist ein verdammt schmaler Grat für
zwei Grad weniger.
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