BUCH IN DER DISKUSSION: Nick Reimer und Toralf Staud beschreiben, wie Deutschland bei zwei Grad Erwärmung 2050 aussehen könnte .
erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021
"Jedes Zehntelgrad zählt", sagen Wissenschaftler im Hinblick auf die Klimaerwärmung. Deutschland ist in den vergangenen 240 Jahren im Jahresmittel 1,6 Grad wärmer geworden. In den nächsten 30 Jahren kommen laut Wissenschaftlern 0,4 Grad dazu – mindestens und unabhängig davon, um wie viel die Menschheit die Treibhausgasemissionen bis dann senkt. Wer heute jünger als 50 ist, wird das wahrscheinlich erleben.
Nick Reimer und Toralf Staud, zwei erfahrene
Klimajournalisten, zeigen in ihrem neuen Buch, was zwei Grad Erwärmung für
Stadt und Land, die Wirtschaft, den Verkehr und insbesondere für die Menschen
bedeuten dürften.
Das Hauptproblem sei die Hitze. Der menschliche Körper ist gut darin, seine
Temperatur nach oben zu regulieren, aber weniger nach unten. Hitzewellen gelten
daher als Extremwetterereignis mit den meisten Todesopfern. Eine weitere Gefahr
seien tropische Krankheiten: Wenn es wärmer wird, kämen Moskitos nach
Deutschland, die Chikungunya-, Dengue- oder Gelbfieber verbreiten.
Hitze sei aber auch in vielen anderen Bereichen ein Problem: Ab 55 Grad wird
der Asphalt weich. Eisenbahnschienen können sich verbiegen. Bei Hitze nimmt
auch die Produktivität ab, ein Problem für die Wirtschaft. Eine mögliche Lösung
wäre hier die Verschiebung der Arbeitszeiten: Arbeitsbeginn bei Sonnenaufgang.
Das zweitgrößte Problem sind Dürren im Sommer. Über das Jahr wird zwar etwas
mehr Regen fallen, doch meist im Winter. Einen Vorgeschmack haben die
Dürresommer 2017 bis 2020 geliefert.
Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat schon in den 90er-Jahren
durchgerechnet, was die Erwärmung für Deutschland bedeutet, und festgestellt:
"Die Simulationsergebnisse zeigen einen Trend zur Steppe."
Insbesondere die Wälder seien gefährdet. Diese leiden unter drei Faktoren:
Hitze, Wassermangel und Schädlinge wie der Borkenkäfer, die sich bei höheren
Temperaturen schneller vermehren. Dürren seien auch für die Binnenschifffahrt
ein Problem. 2018 war der Wasserstand im Rhein so niedrig, dass ein Stahlwerk
von Thyssen-Krupp in Duisburg, die BASF-Chemiefabrik in Ludwigshafen und eine
Shell-Raffinerie in Köln zeitweise heruntergefahren werden mussten, weil sie
nicht genügend Rohstoffe hatten. Im Süden und Westen Deutschlands stiegen
daraufhin die Benzinpreise.
Aber auch Überschwemmungen und Stürme dürften zunehmen. Warme Luft kann mehr
Wasser aufnehmen, und es komme öfter zu Starkregen. Auch Stürme würden stärker,
sowohl über Land als auch über dem Meer. Hinzu kommt, dass der Meeresspiegel
steigt, insbesondere in der Nordsee. Der Pegel in Cuxhaven liegt heute um 40
Zentimeter höher als im Jahr 1843, und in den nächsten 30 Jahren kämen weitere
zehn Zentimeter dazu. Ein immer größeres Problem dürften Waldbrände sein.
All das stelle die Feuerwehren und die Einheiten des Technischen Hilfswerks vor
immer größere Herausforderungen. Hinzu kommt, dass diese meist aus Freiwilligen
bestehen und von Kommunen getragen werden, die unter Finanznot leiden.
"Die bisherigen Strukturen von Rettungsdiensten werden immer stärker an
ihre Grenzen stoßen", schreiben Reimer und Staud.
Das gelte auch für vieles andere, etwa für Baunormen. Wer wissen will, wie sich
Berlin im Jahr 2050 anfühlen könnte, kann ins südfranzösische Toulouse fahren.
Für München ist die "Partnerstadt" Mailand. Doch diese Städte haben
sich über Jahrhunderte mit ihrem jetzigen Klima entwickelt. Berlin und München
wurden für ein anderes Klima gebaut. "Klimawandel bedeutet eine radikale
Entwertung des Erfahrungswissens", so Reimers und Staud. "Tausende
Regeln in Handwerk und im Ingenieurwesen sind geschrieben für die Temperaturen,
Stürme und Niederschläge der Vergangenheit."
Trotzdem sei Deutschland vergleichsweise gut vorbereitet, schreiben sie. Das
zeigen die Studien und Experten, die Reimer und Staud zitieren. Die größten
Auswirkungen auf den Alltag im Deutschland des Jahres 2050 dürften Folgen der
Klimaerwärmung in fernen Ländern sein: Der Migrationsdruck werde zunehmen.
Aktuell herrscht nur auf 0,8 Prozent der Erde eine Durchschnittstemperatur von
29 Grad. 2070 gelte das für 19 Prozent, so Prognosen. Ein "nahezu
unbewohnbarer" Gürtel ziehe sich dann auf der Höhe der Tropen von Afrika
bis Thailand – die Heimat von 3,5 Milliarden Menschen.
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