hier FOCUS online Geschichte von Luke Haywood, Marion Leroutier, Robert Pietzcker • 8.2.24
Drei Experten rechnen vor
Angesichts der Klimakrise wird der Ruf nach neuen Atomkraftwerken (AKW) laut. AKW sind grundsätzlich eine Option, mit niedrigen CO2-Emissionen Strom zu erzeugen. Aber bedeutet das auch, dass in Europa neue Kernkraftwerke tatsächlich eine gute Investition für das Klima sind?
Die Bekämpfung der Klimakrise ist dringend. Europa und die USA wollen bis 2030 ihre CO2-Emissionen mindestens halbieren. Angesichts dessen sollte der Fokus auf der günstigsten und verfügbarsten Technik liegen. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen klar: Erneuerbare Energiequellen sind der Kernkraft überlegen – sowohl bei den Kosten als auch bei der Ausbaugeschwindigkeit.
Investitionen in neue AKW sind in Europa aufgrund hoher Kosten und langer Bauzeiten weder eine wirksame noch eine günstige Strategie. Anders gesagt: jeder Euro, der für den Neubau von Kernkraftwerken ausgegeben wird, könnte schneller mehr für das Klima bewirken, wenn er stattdessen in Wind- oder Solarenergie investiert werden würde.
Teure AKW: Sicherheitsrisiken und hohe Finanzierungskosten
Ein Atomkraftwerk ist eine komplexe Anlage, die wie jede komplexe Anlage das Potenzial für Fehler (menschlich oder technisch) hat. Im Unterschied zu anderen komplexen Anlagen besteht bei Fehlern im AKW ein Restrisiko, einen Nuklearunfall auszulösen, der große Landstriche verseuchen könnte. Dieses Risiko ist extrem gering, aber größer als Null und die Folgen potentiell katastrophal.
Deshalb ist der Bau von AKW hochgradig reguliert und kompliziert: Vorprodukte und Bautätigkeiten müssen genauestens überwacht und dokumentiert werden, und bei geringsten Anomalien müssen Teile ersetzt werden. Dies macht den Bau und Betrieb deutlich teurer als bei einer vergleichbar komplexen Anlage ohne dieses Risiko.
Die Komplexität und sicherheitstechnischen Anforderungen von Atomkraftwerken führen dazu, dass Planung und Bau sehr lange dauern und es häufig zu Verzögerungen kommt. Bei den beiden ersten AKW-Neubauten in Westeuropa seit 20 Jahren, Olkiluoto und Flamanville, hat sich die Bauzeit von geplanten 4-5 Jahren auf 17-18 Jahre erhöht.
Während der Bauzeit entstehen keine Einnahmen, da noch kein Strom verkauft wird; dafür fallen bereits jahrelang Zinsen für Kredite an. Für Investoren eine denkbar ungünstige Kombination: hohe Baukosten, das Risiko von Bauverzögerungn und Kostensteigerungen, gleichzeitig viele Jahre Wartezeit vor den ersten Einnahmen.
Beides zusammen führt dazu, dass die Kosten eines AKW-Neubaus sehr hoch sind. Bei den Neubauten in Olkiluoto und Flamanville stiegen sie von geplanten 3 Milliarden Euro pro Reaktor auf 11 bzw. 19 Milliarden Euro pro Reaktor an, sind also etwa drei- bis fünfmal höher als ursprünglich geplant. Entsprechend teuer ist Strom aus neugebauten Kernkraftwerken. Aus dem Vergütungsvertrag für den Neubau Hinkley Point C lassen sich Kosten von etwa 14 Cent pro Kilowattstunde (inflationsangepasst) abschätzen. Das ist etwa doppelt so teuer wie Strom aus großen Solar- oder Windparks in Europa.
Fehlende Lerneffekte beim Bau neuer Kernkraftwerke
Nun könnte man argumentieren, dass Wind- und Solarenergie ebenfalls deutliche Förderungen erhalten haben, um von einer teuren Nischentechnologie zur kostengünstigsten Stromquelle entwickelt zu werden. Der Unterschied ist: bei den vergleichsweise kleinteiligen Wind- und Solaranlagen gab es aufgrund der Modularität starke Lerneffekte, die die Kosten massiv reduziert haben. Im Vergleich zum Jahr 2010 kostet eine Kilowattstunde Strom aus einer Solaranlage heutzutage weniger als ein Fünftel.
Im Gegensatz dazu zeigt die Serie an europäischen Atomkraftwerken vom Typ EPR keine Lerneffekte: Der aktuell in Großbritannien geplante Reaktor Sizewell C hatte bei Einreichung des Bauantrags erwartete Kosten von etwa 11 Milliarden Euro pro Reaktor. Dies ist mehr als doppelt so hoch wie die bei Antragseinreichung geplanten Kosten des ersten EPR-Reaktors Olkiluoto, und vergleichbar mit den – nach massiven Kostensteigerungen – insgesamt bezahlten 11 Milliarden Euro. Insofern lässt sich über die vier in Europa begonnen EPR-Reaktoren keine Kostenreduktion feststellen, und es ist unklar, ob überhaupt – und wenn ja, wann – Lerneffekte erzielt werden können.
Ein weiteres Argument, das für den Neubau von AKW angeführt wird, ist die Tatsache, dass Wind und Sonne variable Energiequellen sind. Entsprechend muss das Stromsystem angepasst werden, um auch weiterhin einen stabilen Netzbetrieb zu gewährleisten.
Warum sich der Umbau des Energiesystems dennoch rechnet
Es ist richtig, dass Wind- und Solarstrom größere Kosten für Flexibilität (Speicher, Netze, Nachfrage-Optimierung) verursachen als andere Kraftwerke. Allerdings stimmt eine große Anzahl an wissenschaftlichen Studien der letzten fünf Jahre darin überein, dass die Stromversorgung auch mit sehr hohen Anteilen an Solar- und Windenergie zu moderaten Kosten gesichert werden kann. Die exakten zusätzlichen Kosten hängen von den jeweiligen Annahmen zum Verhältnis von Wind- zu Solarenergie, Speicherkosten, Netzausbau und Flexibilität der Nachfrage ab; sie bewegen sich jedoch überwiegend im Bereich von 1-6 Cent pro Kilowattstunde. Selbst mit diesen Integrationskosten bleibt Strom aus Wind- und Solarenergie also günstiger als Strom aus neuen AKW.
Auch Kernkraftwerke benötigen eine zusätzliche Absicherung und verursachen Integrationskosten: 2022 mussten zeitweise mehr als die Hälfte der französischen AKW wegen technischer Probleme und wegen anhaltender Dürre abgeschaltet werden. Deshalb musste Frankreich in großem Umfang Strom importieren und sogar stillgelegte Kohlekraftwerke wieder in Betrieb versetzen.
Die Vision eines vollständig auf erneuerbaren Energien basierenden Stromsystems ist längst keine grüne Spinnerei mehr – sie wird inzwischen auch von Praktikern der Energiewirtschaft vollumfänglich geteilt. So sagte bspw. Stefan Kapferer, Chef des Netzbetreibers 50Hertz und damit verantwortlich für den stabilen Netzbetrieb in Ostdeutschland, 2022 im Interview mit dem RBB: „In zehn Jahren wollen wir 100 Prozent der Stromnachfrage aus Erneuerbaren decken.”
Mindestens fünf Jahre zu spät
Der zweite Grund, warum AKW keine sinnvolle Investition für Klimaschutz sind, ist die lange Planungs- und Bauzeit. Es gab bei allen vier europäischen EPR deutliche Verzögerungen bei Planung und Bau. Allein die Bauzeit nach vollendeter Planung und Genehmigung beträgt für die vier Reaktoren zwischen 10 und 18 Jahre.
Selbst in Frankreich, dem Land mit den meisten Kernkraftwerken in Europa, sind die aktuellen Regierungspläne pessimistisch. Der von Präsident Macron präsentierte Ausbauplan sieht in einem ersten Schritt den Neubau von sechs Reaktoren vor, die sukzessive von frühestens 2035 bis 2042 in Betrieb gehen sollen. Es ist schwer vorstellbar, dass andere europäische Länder mit weniger Erfahrung im Bau von Kernkraftwerken einen schnelleren Neubau umsetzen könnten.
Das steht in hartem Widerspruch zur Dringlichkeit der Klimakrise, die die möglichst schnelle Reduktion von CO2-Emissionen notwendig macht. Alle Staaten Europas haben sich starke CO2-Minderungsziele für 2030 gesetzt, die nur erreicht werden können, wenn bis dahin die Emissionen der Stromerzeugung massiv reduziert sind. Neue Atomkraftwerke werden mindestens fünf Jahre zu spät kommen, um zu diesem Ziel beitragen zu können.
Im Gegensatz dazu haben die letzten zwei Jahre gezeigt, dass der Bau insbesondere von Solaranlagen stark beschleunigt werden kann. Unter dem Eindruck der Energiekrise von 2022 wurden in der EU 2023 doppelt so viele Solaranlagen gebaut wie im Jahr 2021, in Deutschland sogar knapp zweieinhalbmal so viele. Und die Zeichen stehen weiter auf Wachstum: Deutschland plant, ab 2026 jährlich 22 Gigawatt Solaranlagen zuzubauen, deren Stromproduktion der von zwei EPR-Reaktoren entspricht. Lange bevor die sechs geplanten Reaktoren in Frankreich nach dem Jahr 2035 erstmalig Strom ins Netz einspeisen, wird Deutschland nach aktueller Planung PV-Anlagen mit einer Stromproduktion von mehr als 20 EPR-Reaktoren installiert haben - und so in großem Umfang Strom aus Kohle- und Gaskraftwerken ersetzt haben.
Was ist mit alternativen Kernkraft-Techniken?
Aktuell deutet auch nichts darauf hin, dass alternative Kernkrafttechniken verlässlich die beiden genannten Schwachstellen der heutigen Technik beheben können. Bezüglich neuer Reaktortypen schreibt das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) in einem Gutachten, es "kann nicht davon ausgegangen werden, dass solche Reaktorkonzepte bis zur Mitte dieses Jahrhunderts in relevantem Umfang zum Einsatz kommen werden".
Auch die Entwicklung kleiner modularer Reaktoren geht nur langsam voran und hat Ende 2023 einen herben Dämpfer erlitten, als das Vorzeigeprojekt der Firma NuScale in den USA nach einer Kostensteigerung um 75% geplatzt ist. Noch unplausibler ist die Idee, die Kernfusion könnte zur Erreichung der europäischen Klimaschutzziele beitragen. Nachdem in den USA am Forschungsinstitut LBNL im Dezember 2022 ein Meilenstein der Fusionsforschung erreicht wurde, kommentierte die Institutsdirektorin, Kimberly Budil, ehrlich und gleichzeitig desillusionierend: "Mit konzertierten Anstrengungen und Investitionen könnten wir in wenigen Jahrzehnten (...) in der Lage sein, ein Kraftwerk zu bauen” – man beachte den Plural bei “wenigen Jahrzehnten”.
Angesichts dieser Faktenlage ist es irritierend, dass sich regelmäßig einzelne Personen mit zugespitzten Positionen lautstark zu Wort melden und den Ergebnissen der aktuellen Energiesystemforschung widersprechen, ohne selbst neue Erkenntnisse zu den beiden zentralen Hemmnissen – Kosten und Ausbaugeschwindigkeit – liefern zu können.
Zusammenfassend und zugespitzt formuliert: Angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise ist der Neubau von AKW in Europa eine teure Ablenkung, mit der Geld und kostbare Zeit für Klimaschutz verloren geht.
Dieser Artikel basiert auf den Recherchen zur Publikation “Why investing in new nuclear plants is bad for the climate” von Luke Haywood, Marion Leroutier und Robert Pietzcker in der wissenschaftlichen Zeitschrift Joule.
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