Donnerstag, 1. Februar 2024

Zum Einordnen der Proteste

 


vom "Zentrum für politische Schönheit", auf Twitter gefunden (hier)


RND hier Harald Stutte 24.01.2024,

Warum Menschen demonstrieren

Die Republik auf den Straßen: Deutschlands größte Protestbewegungen
Bundesweit demonstrieren derzeit Menschen gegen Rechtsextremismus 

Seit der Wiedervereinigung rollten verschiedene Protestwellen über die Bundesrepublik: Serien rechtsradikaler Brandanschläge, Kanzlers Schröders Sozialreform Agenda 2010 oder der Irak-Krieg mobilisierten Hunderttausende.
 
„Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“, heißt es in Artikel 8 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Das Wort „Demonstration“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „Beweis“ oder „Beweisführung“.

Von dieser Form „öffentlich bekundeter“ Beweisführung machen Menschen seit zwei Wochen Gebrauch – indem sie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen, die sie durch die in Teilen rechtsradikale AfD bedroht sehen.

In der DDR hatten Demonstrationen Seltenheitswert, weil es kein Grundrecht darauf gab und sie, anders als im Westen, stets das System erschütterten: So wie bei den Demonstrationen rund um den 16. und 17. Juni 1953, die in einem Volksaufstand mündeten, an dem sich nach heutigen Schätzungen der Historiker bis zu 1,5 Millionen Menschen beteiligten. Massenproteste beendeten 1989 auch die Existenz der DDR – wie jene am 4. November 1989 in Ostberlin, drei Tage vor dem Fall der Mauer.

Die größten Demonstrationen seit der Wiedervereinigung:

Die 90er-Jahre: Lichterketten gegen rechte Gewalt

Schon kurz nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 erschütterte eine Serie rechter Anschläge auf Häuser und Einrichtungen, in denen Menschen mit migrantischen Wurzeln lebten, das Land: Im brandenburgischen Hoyerswerda jagt im September 1991 ein fremdenfeindlicher Mob eine Woche lang Menschen, die eingewandert sind. In Rostock-Lichtenhagen setzt ein entfesselter Mob ab dem 22. August 1992 ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter in Brand, Auftakt für eine tagelange Menschenjagd. In Mölln verbrennen im November 1992 drei Menschen, in Solingen sterben im Mai 1993 fünf Menschen in einem in Brand gesteckten Wohnhaus.

Die Zivilgesellschaft reagiert mit Lichterketten und Demonstrationen: Am 16. Dezember 1992 nehmen 400.000 Menschen in München an der ersten Lichterketten-Demonstrationen gegen Fremdenhass, Rechtsradikalismus und Antisemitismus teil. Am 18. November 1992 demonstrieren in Berlin etwa 350.000 Menschen unter dem Motto „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

Auch Jahre später noch, am 9. November 2000, demonstrieren in Berlin mehr als 200.000 Menschen „für Menschlichkeit und Toleranz“.

Arbeitnehmerrechte und Bergbaurettung

Ein großes Motivationspotenzial, was Demonstrationen betrifft, bildeten in den 90er-Jahren drohende Zechenschließungen und soziale Kürzungen. Am 28. Januar 1993 folgten 120.000 Bauleute dem Aufruf ihrer Gewerkschaft IG Bau-Steine-Erden nach Bonn, dem damaligen Regierungssitz, um gegen die geplante Streichung des „Schlechtwettergeldes“ zu demonstrieren.

Ein Bündnis aller Gewerkschaften rief am 15. Juni 1996 ebenfalls in Bonn zur Demonstration gegen Sozialabbau auf – etwa 350.000 Menschen nahmen teil.

Eindrucksvoll war ein 93,1 Kilometer langes „Band der Solidarität“ zwischen Neukirchen-Vluyn und Lünen im Ruhrgebiet, gebildet von 220.000 Menschen, die so am 14. Februar 1997 für den Erhalt der Arbeitsplätze im Steinkohlebergbau demonstrierten – vergeblich, wie wir heute wissen.

2003: Der Irak-Krieg mobilisiert Hunderttausende

Für Historiker und Politikwissenschaftler markiert der 11. September 2001 den Beginn eines neuen, multipolaren Zeitalters: Die terroristischen Anschläge des islamistischen Netzwerks Al-Kaida auf die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York und das Pentagon in Washington erschüttern die Vereinigten Staaten und führen zu einer breiten Solidarisierung weltweit. US-Präsident George W. Bush reagiert und wird zumindest bei seinem Angriff auf das von den Taliban beherrschte Afghanistan unterstützt. Von dort aus organisierten die Regisseure des Terrors ihre Anschläge. Als die USA aber im März 2003 eine Invasion im Irak starten, obwohl das Land mit den Anschlägen nichts zu tun hatte, ist die globale Empörung groß.

In Deutschland gehen Hunderttausende auf die Straßen. Allein in Berlin sind es am 15. Februar 2003 bis zu 500.000 Menschen. Es ist die bis dahin größte Demonstration der Bundesrepublik. Fast alle Parteien und gesellschaftlichen Gruppen unterstützen die auch von der damaligen rot-grünen Bundesregierung getragene Ablehnung des Krieges im Irak.

2003/04: Unmut über Gerhard Schröders Sozialreform

Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Arbeitsminister Franz Müntefering stehen zu Beginn der zweiten Legislaturperiode der ersten rot-grünen Bundesregierung unter Zugzwang: Deutschlands Wirtschaft schwächelt, auch im weltweiten Vergleich. Zu hohe Sozialausgaben, eine fehlende Flexibilität und keine finanziellen Spielräume für Investitionen haben Deutschland den Ruf des „kranken Mannes Europas“ eingebracht. Mit einem Kraftakt, genannt „Agenda 2010“, wollen sie das Sozialsystem reformieren – und legen die Grundlagen dessen, was heute noch weitgehend gilt.

Das provoziert enormen Widerstand, vor allem bei Gewerkschaften und breiten Arbeitnehmerschichten: Am 3. November 2003 gehen in Berlin etwa 100.000 Unzufriedene gegen die Agenda 2010 auf die Straßen, am 3. April 2004 sind es in der Hauptstadt sogar 250.000 Menschen, in Stuttgart 140.000, in Köln 100.000.

2011: Fukushima und die Renaissance der Anti-Atomkraft-Bewegung

Nach einem Erdbeben kommt es am 11. März 2011 im japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi zur Katastrophe – erhebliche Mengen radioaktiver Stoffe werden freigesetzt. In Deutschland erlebt die traditionell starke Anti-AKW-Bewegung neuen Auftrieb. Am 26. März 2011 fordern 120.000 Menschen in Berlin den sofortigen Atomausstieg, 50.000 sind es in Hamburg, in Köln und München jeweils 40.000.

2015: Die Angst vor Freihandel und Globalisierung

Stark antikapitalistische Züge tragen die Proteste gegen die von der EU geplanten Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) und Kanada (CETA): Gerüchte über angeblich (auf US-Niveau) gesenkte Standards bei den Lebensmittelkontrollen („Chlorhähnchen“) oder genmanipulierte Produkte führen zu einer großen Mobilisierung: In Berlin gehen am 10. Oktober 2015 laut den Veranstaltern eine Viertelmillion Menschen auf die Straßen, die Polizei zählt etwa 150.000 Teilnehmende. Der neue US-Präsident Donald Trump, ab Januar 2017 im Amt, ein erklärter Freihandelsgegener und „Wirtschaftsnationalist“, beendete später die TTIP-Verhandlungen mit der EU.

Ab 2014: Rechte Proteste zur „Verteidigung des Abendlandes“

Eine ganz eigene Demonstrationskultur bildete sich in Teilen Ostdeutschlands heraus, maßgeblich verstärkt durch die erhöhten Migrationszahlen in der zweiten Jahreshälfte 2015 und der Entscheidung der Merkel-Regierung, die offenen EU-Grenzen nicht zu schließen.

Ende 2014 gründete sich der Verein Pegida (Langform: Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes), der laut dem sächsischen Verfassungsschutz „erwiesene extremistische Bestrebungen“ aufweist. Im Verlauf des Jahres 2015 ruft der Verein vor allem im Aktionszentrum Dresden wöchentlich zu Protestmärschen gegen die Politik der Bundesregierung auf. Die höchste Teilnehmerzahl wird demnach am 10. Januar 2015 mit 35.000 Teilnehmenden erreicht. In Leipzig nehmen an einer ähnlichen Veranstaltung (Legida) am 12. Januar 2015 geschätzte 30.000 Menschen teil, in anderen Städten finden die Veranstalter kaum Widerhall.

Die Zivilgesellschaft reagiert: Am 13. Oktober 2018 demonstrieren knapp 250.000 Menschen (laut Veranstaltern) in Berlin unter dem Motto „unteilbar – Solidarität statt Ausgrenzung“ für eine offene und freie Gesellschaft.

2019: Fridays for Future

Zum ersten globalen Klimastreik rufen die Protagonisten von Fridays for Future am 15. März 2019 auf: Bundesweit streikten mehr als 300.000 Schülerinnen und Schüler in über 230 Städten; in Berlin nahmen ca. 25.000 Menschen teil. Am 24. Mai 2019 zählt man in Hamburg nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 17.000 und 25.000 Teilnehmer. Höhepunkt der Bewegung bildet nach Angaben der Veranstalter der 24. September 2021, wo allein in Berlin mehr als 100.000 Menschen gezählt wurden.

2020/21: Proteste der Corona-Leugner

Anfang 2020 erreichte die Corona-Pandemie auch Deutschland. Am 22. März 2020 trat schließlich der erste Corona-Lockdown in Kraft. Die strengen Einschränkungen sorgten für Unmut, je länger die Pandemie die Welt im Griff hatte. Es kam trotz Versammlungsverbotes (aufgrund der Ansteckungsgefahr) zu bundesweiten Demonstrationen, vor allem im Verlauf des Jahres 2021.

Zu den größten Protestkundgebungen kommt es am 1. August 2020 in Berlin, die Polizei zählt etwa 20.000 Demonstranten sowie am 11. Dezember 2021 in Hamburg. Dort gingen rund 11.500 Menschen unter dem Motto „Das Maß ist voll – Hände weg von unseren Kindern“ auf die Straße, wie die Polizei mitteilte.

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