Samstag, 10. Februar 2024

Die Stärke von Demokratie besteht darin, dass es viele verschiedene Meinungen gibt. Und dass sie das aushält.

 2 schöne Artikel, die sich mit der aktuell "gefühlten" Unzufriedenheit auseinandersetzen. Gibt es wirkliche, nachvollziehbare Gründe dafür?
Eine rasend schnelle Transformation trifft auf eine überalterte Bevölkerung....das scheint durchaus eine mögliche Erklärung zu sein.

WISSENSCHAFT in National Geographic   hier  INSA GERMEROTT  8. FEB. 2024

Warum sind so viele Deutsche unzufrieden mit der aktuellen Politik?

Eine neue Gesellschaftsstudie bildet die derzeitige politische Einstellung der Bevölkerung in Deutschland ab – und erklärt, warum manche Regionen mehr zu Populismus neigen als andere.

Schon lange war Populismus in Deutschland nicht mehr so „salonfähig“ wie aktuell

 Laut den neuesten Wahlumfragen des ZDF Politbarometers gilt die Partei AfD, die in mehreren Bundesländern als rechtsextrem eingestuft wurde, mit 19 Prozent zurzeit als zweitstärkste Kraft nach der CDU. Wie sehr Rechtsextremismus, Rassismus und Demokratiefeindlichkeit im Jahr 2024 in der Gesellschaft angekommen sind, zeigte auch eine Investigativrecherche des gemeinwohlorientierten Medienhauses Correctiv im Januar. Sie berichtete über ein rechtes Geheimtreffen mehrerer Akteur*innen aus Politik und Wirtschaft, die die Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland planen – und rüttelte Teile der Gesellschaft wach: Seit ihrer Veröffentlichung gehen hunderttausende Menschen auf die Straße und demonstrieren gegen den zunehmenden Rechtspopulismus sowie die AfD – und für Demokratie. 

Wie entstehen diese politischen Einstellungen und gesellschaftlichen Spaltungen in Deutschland? Und warum neigen manche Menschen mehr zu Populismus als andere? Das haben Forschende vom GESIS Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften genauer untersucht. Der von ihnen erstellte Deutschland-Monitor zeigt, wie sich eine politische Einstellung durch individuelle Persönlichkeitsmerkmale, aber auch durch das Wohn- und Lebensumfeld und die Einschätzung des eigenen gesellschaftlichen Status ausbildet. Er soll einen Überblick über die politische und gesellschaftliche Lage geben und Denkanstöße und Handlungsmöglichkeiten für die Politik liefern. 

Politische Einstellung: Wohnort spielt entscheidende Rolle

Um herauszufinden, wie es um die gesellschaftliche und politische Einstellung in Deutschland steht, befragte das Forschungsteam stichprobenartig 8.000 Personen aus der Bevölkerung: 4.000 Menschen bundesweit und 4.000 Menschen auf regionaler Ebene – in ausgewählten strukturstarken und strukturschwachen Landkreisen in Ost- und Westdeutschland. Sie wurden mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten befragt. Zusätzlich führte das Team Fokusgruppeninterviews in ausgewählten Landkreisen durch. Es ging um die Zufriedenheit mit dem eigenen Wohnort, das Vertrauen in staatliche und kommunale Institutionen und die Identifikation mit der derzeitigen politischen Praxis und der Demokratie. 

Bei den Befragungen wurden Anzeichen sozialer Spaltung sichtbar: Je nachdem, wie Personen ihren Wohnort, ihre Lebensqualität und den sozialen Zusammenhalt wahrnahmen und bewerteten, unterschieden sich individuelle Einstellungen zu Politik und Gesellschaft teilweise stark. 

Warum Menschen zu populistischen Einstellungen neigen

Insgesamt wiesen 24 Prozent der Befragten bundesweit populistische Einstellungen auf – in Ostdeutschland sogar 32 Prozent. Gründe dafür liegen laut der Studie neben persönlichen Merkmalen in einer negativen Bewertung des eigenen Wohnorts. Menschen mit populistischen Einstellungen sehen ihren Standort gegenüber anderen Regionen in Deutschland aufgrund von wirtschaftlichem Niedergang, Abwanderung und einer schlechteren öffentlichen Daseinsvorsorge – gemeint ist damit zum Beispiel eine schlechte Infrastruktur oder ein schlechtes Mobilfunknetz – als „abgehängt“. Sie haben „den Eindruck, dass sich die Politik für ihre Region nicht ausreichend interessiert und sich zu wenig für deren wirtschaftliche Entwicklung einsetzt“, heißt es in der Studie. So sind Menschen mit populistischen Einstellungen auch häufig mit dem Funktionieren von Demokratie und Politik sehr unzufrieden.

links: Deutschlandkarte mit nach Prosperität sortierten Landkreisen.

Landkreise in Deutschland mit hohem, mittlerem und niedrigem Wohlstand. Die Konjunktur oder Prosperität einer Region kann zu populistischen Einstellungen beitragen. 

FOTO VON DEUTSCHLAND-MONITOR 2023, S. 049

Laut den Forschenden ist dieses Gefühl nicht nur in ländlichen Regionen vertreten: Auch städtische Bezirke mit geringerem Wohlstand weisen leicht erhöhte Anteile populistischer Einstellungen auf – zum Beispiel Vorpommern-Greifswald oder Görlitz. Es komme dabei weniger auf die strukturelle Ausstattung einer Region an, sondern eher auf ihre soziale Zusammensetzung – Alter, Geschlecht, Einkommen, Bildung – und wie stark das Gefühl des „Abgehängtseins“ ist, so das Forschungsteam. 

Nur 38 Prozent vertrauen der aktuellen Bundesregierung 

Neben populistischen Einstellungen untersuchte der Deutschland-Monitor auch das Vertrauen in die derzeitige Politik. Lediglich 38 Prozent der Befragten gaben an, dass sie der aktuellen Bundesregierung eher oder voll und ganz vertrauen. „Dieser Befund reiht sich in den beobachteten Trend eines abnehmenden Vertrauens in die Bundes­regierung seit Ende der 2010er Jahre ein“, heißt es in der Studie. Je näher die Politik jedoch an den Menschen sei, desto höher seien ihre Vertrauenswerte: So vertrauen knapp 50 Prozent der Befragten der eigenen Landesregierung und mehr als 58 Prozent den kommunalen Verwaltungschef*innen.

Der Studie zufolge liegt das fehlende Vertrauen in die Bundesregierung in der starken Distanz zu politischen Akteur*innen begründet. Weniger als 15 Prozent der Befragten empfinden Politiker*innen um einen engen Kontakt zur Bevölkerung bemüht. Sie kritisieren beispielsweise die Nichtumsetzung von Wahlversprechen sowie die Zusammensetzung der Regierung, die ihrer Meinung nach nicht die reale Soziodemografie der Bevölkerung abbildet. 

Für die Politiker*innen bedeutet das künftig: Die Belange der Bevölkerung ernst nehmen. Denn: „Ein Grundvertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die staatlichen und kommunalen In­stitutionen ist eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie und die Stabilität des politischen Systems“, so die Studie.

Mehr als die Hälfte der Deutschen ist gesellschaftlich zufrieden 

Die Ergebnisse offenbaren allerdings auch eine erstaunlich positive gesellschaftliche Entwicklung: Obwohl oft von einer Spaltung zwischen Ost und West sowie zwischen Stadt und Land die Rede ist, zeigt die Studie, dass die Mehrheit der Menschen ihre Lebensqualität doch relativ ähnlich bewertet. So schätzen 65 Prozent der Befragten ihren Wohnort als ‚attraktiv‘ ein.

Gleichermaßen nimmt der Großteil der Deutschen einen starken sozialen Zusammenhalt in ihrem regionalen Lebensumfeld wahr. Ein positiver Aspekt, denn: „Sozialer Zusammenhalt vor Ort ist eine zentrale Ressource für das Funktionieren der Demokratie“, sagt Politikwissenschaftler Everhard Holtmann vom Zentrum für Sozialforschung Halle, einer der Autoren des Deutschland-Monitors.

Auch bei den großen gesellschaftlichen Herausforderungen sind sich die Befragten einig: Die Mehrheit sieht diese in der Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum, im Fachkräftemangel sowie im zunehmenden Gegensatz zwischen Arm und Reich.

Deutschland-Monitor: Gesellschafts-Barometer in politischen Krisenzeiten

Die Ergebnisse des Deutschland-Monitors 2023 zeigen, dass die Politik in Zukunft noch intensivere Maßnahmen auf regionaler Ebene ergreifen sollte, um das Vertrauen in Staat und Demokratie zu verbessern. Dazu gehört vor allem die Förderung der Standortqualität – besonders in strukturschwachen, ärmeren Regionen. 

Auch 2024 und 2025 soll es wieder einen jährlichen Deutschland-Monitor geben. Seine Befunde sollen der Politikberatung sowie der politischen Aufklärung dienen. 


Stern hier  Miriam Hollstein / Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk 25.01.2024

INTERVIEW: HISTORIKER ZUR KRISENSTIMMUNG

"Diesem Land geht es so gut wie fast noch nie"

Haben die Bauernproteste und die wachsende Wut auf die Regierung Parallelen zur friedlichen Revolution 1989 in der DDR? Und warum haben viele im Osten kein Vertrauen in die Institutionen mehr? Ein Gespräch mit dem in Ost-Berlin geborenen Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk.

Die in Ost-Berlin geborene Journalistin Anja Reich schrieb unlängst, dass sie die Bauernproteste an die letzten Tage der DDR erinnern würden. Eine These, die man häufiger in Ostdeutschland hört. Bauernproteste, marode Infrastruktur und eine Regierung in der Krise – erleben wir eine "revolutionäre Situation" wie 1989? 

Es gibt zwei Wege, um mit Ereignissen umzugehen. Man guckt hin, was passiert. Oder man betrachtet sie mit einer vorgefassten Erwartungshaltung, vielleicht auch mit einer Art Verelendungshoffnung. 

Wie meinen Sie das? 

Es gibt immer mehr Menschen, und zwar nicht nur aus den Randspektren, die aktuell das Bild einer Gesellschaft zeichnen, die eine Quasi-Diktatur ist, in der man am Rande des Existenzminimums lebt und kurz vor dem totalen Staatsversagen steht. Gefühlt im Jahr 500, also nach dem Untergang des Weströmischen Reichs. Dabei belegen fast alle sozialstatistischen Daten das Gegenteil: Diesem Land geht es so gut wie fast noch nie. 

Das sehen diese Leute aber anders. 

Moment. Umfragen zeigen, dass die Menschen, wenn man sie nach ihrer eigenen Situation befragt, zum großen Teil sagen, dass es ihnen gut geht. Befragt man dieselben Menschen nach der Situation des Landes, sagen sie mit überwältigender Mehrheit: Dem Land geht es schlecht. Das ist im Osten noch ausgeprägter als im Westen.

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk wurde am 4. April 1967 in Ost-Berlin geboren. Mit Zwölf verpflichtete er sich, Offizier der Nationalen Volksarmee zu werden, zog die Entscheidung aber wieder zurück. Er durfte in der DDR nicht studieren, holte nach der Wende sein Abitur und das Studium nach. Später forschte er zur SED-Diktatur und war als Berater für zahlreiche TV-Produktionen über die DDR wie "Weissensee" tätig. Zu seinen wichtigsten Werken zählen "Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR" und "Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde".

Der aktuelle Sachsen-Monitor zeigt, dass auch das Vertrauen in Institutionen wie Parteien, Medien oder die Bundesregierung noch einmal dramatisch gesunken ist. Wo sehen Sie die Ursachen?

Es gibt nicht die eine Ursache. Die Menschen sind nicht nur arg verunsichert, viele kommen nicht mehr mit. Auch wenn die dramatischen Erhebungen in Sachsen wohl im ganzen Osten ähnlich aussehen, sie dürften im Westen nicht wesentlich ermutigender aussehen. Wir befinden uns gerade in einer Spirale der Empörung und Geringschätzung, jeder will den anderen darin noch überbieten. 

Ein nicht geringer Teil
will gar nicht mehr 'zurückgeholt' werden.

Was kann getan werden, um diese Entwicklung zu stoppen?

Verlorenes Vertrauen ist nicht über Nacht zurückzuholen. Ich fürchte, ein nicht geringer Teil will auch gar nicht "zurückgeholt" werden. Ich gehe davon aus, 20 bis 25 Prozent einer Gesellschaft stehen in jedem politischen System diesem ablehnend gegenüber.

Dann kann man also gar nichts tun?

Wir sollten mehr über jene reden, berichten und jene wertschätzen, die alltäglich unser Land aufopferungsvoll am Laufen halten. Es muss aufhören, dass wir uns von Extremisten, Faschisten und Spaltern Takt und Ton und Inhalte diktieren lassen! Und wir sollten uns nicht an unserem eigenen kostenlosen Applaus ergötzen, und wenn dann einzelnen Gruppen für ihre gerechtfertigte soziale Besserstellung kämpfen, Solidarität aufkündigen und so tun, als seien Streiks illegal. Die Gesellschaft muss lernen, Konflikte auszutragen und zu lösen, ohne dabei die jeweils andere Seite zu diffamieren. Wir brauchen keine Konsensgesellschaft, sondern eine Kompromissgesellschaft – das ist das Wesen von Demokratie und Freiheit.

Eine neue Erhebung des europäischen Statistikamts zeigt: Im EU-Vergleich ist fast niemand unzufriedener als die Deutschen. Danach kommen nur noch die Bulgaren. 

Mal im Ernst: Geht es Menschen in Rumänien oder in Albanien wirklich besser als uns Deutschen? Ich glaube, dass sich viele hier überhaupt nicht klarmachen, auf welch extrem hohen Niveau wir uns befinden. Wenn man sehr weit oben thront, ist schon der Abstieg auf eine Stufe darunter ein Riesendrama. Es geht um Verlustängste. Die Leute haben Angst, ihre goldenen Wasserhähne zu verlieren.

Aber es gibt ja reale Probleme. 

Ich rede von der Mehrheit. Ich bestreite nicht, dass es in Deutschland eine große soziale Ungerechtigkeit gibt. Aber die ist seit längerem konstant. Was sich verändert hat: Wir leben in einer Welt, in der vieles ins Rutschen geraten ist. Viele Gewissheiten sind abhandengekommen. Auch das gilt für den Osten mehr als für den Westen.  

Was macht denn eine "revolutionäre Situation" aus? 

Die Menschen, die 1989 auf die Straße gingen, haben mitnichten gesagt: Mir geht es gut, aber dem Land schlecht. Sie sagten: Mir geht es auch ganz persönlich schlecht, und ich glaube, alle anderen sehen nicht, was los ist. Erst die Proteste und die Fluchtbewegung schufen das Bewusstsein dafür, dass man nicht allein ist. Es gibt aber noch tausend weitere Argumente gegen den Vergleich der heutigen Situation mit 1989. Wer in einem totalitären System von einem "Systemsturz" spricht, sitzt am nächsten Tag im Knast. Hier skandieren es die Leute auf der Straße. Weil in unserer Demokratie Meinungs- und Demonstrationsfreiheit herrscht.

Manche Ostdeutsche sagen: Weil wir die Wende erlebt haben, haben wir viel bessere Antennen dafür, wenn ein System in sich zusammenbricht. Ist da nicht etwas dran? 

Es ist richtig, dass wir viele ungute Entwicklungen zuerst in Ostdeutschland erleben und erst mit einer Verzögerung von vier bis sechs Jahren in West-, Nord- und Süddeutschland. Aber das hat nichts damit zu tun, dass Ostdeutsche besondere Seismographen für Systemstürze wären. Die meisten von denen, die das jetzt proklamieren, waren 1989 gar nicht auf der Straße, sondern haben hinter ihren Gardinen schön abgewartet, wie sich die Lage entwickelt. Revolutionen gewinnen immer nur gegen brüchige, instabile Systeme, denen die Legitimation fehlt.  

Das ist eine typisch ostdeutsche Haltung.

Aber unsere Demokratie ist gerade in einer Krise. Viele sehen sich nicht mehr repräsentiert. 

Das ist eine typisch ostdeutsche Haltung. Von Leuten, die das Prinzip der repräsentativen Demokratie nicht verstanden haben. Demokratie ist eine Aushandlungsarena. Da muss man hinnehmen, wenn die eigene Meinung in der Minderheit ist. Viele verstehen offenbar nicht, dass nicht jede Meinung auch zu einer politischen Umsetzung führen kann – wie sollte das auch gehen? Daher bildet die "repräsentative Demokratie" Wahlergebnisse ab – nach der nächsten Bundestagswahl vermutlich andere als bei der letzten. Undemokratisch ist, zu erwarten, dass sich die Politik nach den täglichen demoskopischen Erhebungen richtet. Die sind auch im Grundgesetz nicht vorgesehen. 

Dafür gehen aber ganz schön viele auf die Straße. 

Natürlich gibt es Probleme. Und eines ist die Kommunikation der Bundesregierung, die alles andere als optimal läuft. Da ist der Bundesfinanzminister, der öffentliche Reden hält, als sei er der Oppositionsführer. Und ein Bundeskanzler, der möglichst gar keine Reden hält.

Da steckt ganz viel Wut und Überforderung drin.

Aber wenn die Leute keine Probleme hätten, würden sie nicht auf die Straße gehen. 

Da steckt ganz viel Wut und Überforderung drin. Beides sind irrationale Gefühle, wie die Liebe. Als Historiker sage ich: Die Welt war noch nie in einem besseren Zustand, bei allen Problemen. Der Hunger ist zurückgegangen, die Zahl der Kriege, die der Naturkatastrophen. Die Bildung hat weltweit zugenommen, auch die globale Geschlechtergerechtigkeit.  

Warum wird das dann nicht gesehen? 

Weil wir uns inmitten einer überwältigenden Transformation befinden. Es geht nicht so sehr darum, was sich verändert, sondern in welchem Tempo. Unsere Urgroßeltern oder Großeltern haben zwei Weltkriege erlebt, aber ihr Alltagsleben hat sich derweil wenig verändert. Es dauerte Jahre, bis größere technische Entwicklungen wie der Fernseher, das Telefon oder die Waschmaschine in der Breite der Bevölkerung ankamen. Man hatte Zeit, sich daran zu gewöhnen. Heute verändert sich alles in rasendem Tempo. Wenn das auf eine überalterte Gesellschaft trifft, entsteht eine gefährliche Mischung. 

Gibt es in diesem Punkt Unterschiede zwischen West und Ost?

Ja, Ostdeutschland ist noch überalteter als Westdeutschland, überalterter als der Vatikan. Und es hat einen größeren Männerüberschuss als Nordnorwegen, wo es traditionell weniger Frauen gibt. Das alles wirkt sich verstärkt im Osten aus, wo die Transformation noch viel heftiger ist als im Westen, weil es hier die zweite binnen weniger Jahre ist. Und es führt dazu, dass viele die Vergangenheit rosarot verklären. "Früher war alles besser" heißt nichts anderes als "Früher wusste ich, wo mein Platz war, fühlte ich mich sicherer". In der Vergangenheit kennt man sich eben viel besser aus als in der Gegenwart oder in der Zukunft. Da ist angesichts des Veränderungstempos durch die digitale Revolution nachvollziehbar – auch ich fühle mich zuweilen verunsichert.

Was muss geschehen, damit die Menschen sich wieder sicherer fühlen? 

Wir brauchen Identifikationsanker. Die Nationalsymbole wie die Nationalhymne oder die Deutschlandflagge sind für viele aufgrund unserer Geschichte immer noch belastet. Aber wir brauchen Symbole, die uns das Gefühl geben, eine Gemeinschaft zu sein. Wir dürfen die Symbole nicht jenen überlassen, die gegen Demokratie und Freiheit, wie es das Grundgesetz definiert, auftreten. Ein anderer Ansatz wäre, Artikel 146 des Grundgesetzes mit Leben zu erfüllen.

Der besagt, dass das Grundgesetz an jenem Tag seine Gültigkeit verliert, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Sie wollen eine neue Verfassung? 

Wir brauchen eine Bewegung, eine breite Debatte für eine neue Verfassung, an der sich ein Großteil der Gesellschaft beteiligt. Ich bin mir sicher, dass diese zu 80 Prozent so aussehen würde wie das jetzige Grundgesetz. Wir Demokraten und Demokratinnen müssen aufhören, uns auf die lautstarken Ränder zu konzentrieren und uns von den Feinden der Demokratie die Themen diktieren zu lassen. Die AfD ist ein solcher Feind der Demokratie. Wir sollten uns auf die konzentrieren, die das Land gestalten und es voranbringen, die vielen kleinen Initiativen der Zivilgesellschaft.

Birgt eine neue Verfassung nicht die Gefahr, dass sie wenig demokratisch ausfiele?

Eine neue Verfassung auf der Grundlage einer breiten Mehrheit, die auf dem mittlerweile zerklüfteten Grundgesetz basiert, gäbe uns ein mächtiges Argument gegen die Feinde der Demokratie in die Hand. Leider wird es dazu nicht kommen, weil alle Verfassungsorgane unerklärlicherweise Angst und Befürchtungen vor einem solchen verfassungsgebenden Prozess haben. Nüchtern muss man entgegenhalten: Wenn sie wirklich glauben, am Ende gebe es eine Mehrheit für ein nichtdemokratisches Regime, dann wäre das ohnehin nicht aufzuhalten. Nur: Diese Mehrheit gibt es gar nicht – die Mehrheit für die Grundgesetzdemokratie ist stark und stabil!

Mit einem AfD-Verbot löst man die politischen Probleme nicht.

Was halten Sie vom Versuch, die AfD zu verbieten? 

Ich bin da zwiegespalten. Einerseits wäre es ein wichtiges Signal. Und man könnte bei einem besonders radikalisierten Landesverband wie Thüringen anfangen. Aber damit löst man die politischen Probleme nicht, sondern verschärft sie noch.

Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass Ost und West irgendwann wirklich zusammenwachsen? 

Ost und West sind längst zusammengewachsen. Es wird noch die eine oder andere Gespensterdebatte geführt, und natürlich gibt es Frustrierte. Aber die gibt es auch in Bayern oder in Friesland. Die Stärke von Demokratie besteht darin, dass es viele verschiedene Meinungen gibt. Und dass sie das aushält. 

Mir macht mehr Sorgen, dass es einen wachsenden Drang nach einer starken Hand und nach autoritären Strukturen gibt. Ich hätte mir 1989 nicht vorstellen können, dass ich nochmal in einem totalitären System leben könnte. Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das nicht nochmal passiert. Aber glücklicherweise bin ich Historiker, kein Zukunftsforscher. 

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