Mittwoch, 28. Februar 2024

Lieferkettengesetz:"Die Schreckensszenarien sind nicht eingetreten"

Süddeutsche Zeitung hier   28. Februar 2024, Von Michael Bauchmüller und Jan Diesteldorf, Berlin, Brüssel

Gerd Müller, Chef der UN-Organisation für industrielle Entwicklung (Unido).

Als Minister hat Gerd Müller an einem Lieferkettengesetz mitgeschrieben. Jetzt warnt er davor, das europäische Gesetz durchfallen zu lassen. Die entscheidende Abstimmung ist für diesen Mittwoch angesetzt.

Kurz vor der wohl finalen Abstimmung des Ministerrates über das EU-Lieferkettengesetz hat der einstige Entwicklungsminister Gerd Müller eindringlich vor einem Scheitern gewarnt. "Es darf keine Geschäftsmodelle geben, die auf Kinderarbeit und Ausbeutung beruhen", sagte der CSU-Politiker, der inzwischen Chef der UN-Organisation für industrielle Entwicklung (Unido) in Wien ist. Der globale Handel sei ein "Gamechanger", sagte Müller der Süddeutschen Zeitung. "Aber er darf nicht länger die Reichen reicher und die Armen ärmer machen." Hungerlöhne, Kinder- oder Zwangsarbeit auszuschließen, "sollte eine Selbstverständlichkeit sein", sagte Müller. Das EU-Lieferkettengesetz könne einen Beitrag leisten, dies zu ändern.

Die EU-Staaten hatten das Gesetz bereits Anfang Februar beschließen sollen, nach Abschluss des formalen Trilog-Verfahrens zwischen Rat, Parlament und Kommission. Doch in Deutschland lehnt die FDP das Gesetz ab, Berlin hätte sich enthalten müssen. Auch Italien hatte als Mitgliedstaat mit hohem Stimmgewicht seine Enthaltung angekündigt. Schließlich hatten sich weitere Mitgliedstaaten gegen das Gesetz gestellt. Um keine Niederlage zu riskieren, verschob die belgische Ratspräsidentschaft die Abstimmung.

Ein europaweiter Standard wäre im deutschen Interesse

Müller sagte, er wolle die deutsche Haltung nicht kommentieren. "Aber ich weiß, dass es auch im Interesse der deutschen Wirtschaft ist, dass es europaweit einheitliche Standards gibt." Für hiesige Unternehmen liege darin sogar ein Wettbewerbsvorteil, denn schon jetzt gilt für sie das sogenannte Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz - an dem Müller selbst mitgeschrieben hatte. "Und dieses Gesetz funktioniert, alle Schreckensszenarien sind nicht eingetreten", sagte er. So werde es auch mit dem EU-Gesetz sein.

An diesem Mittwoch sollen die EU-Botschafter der Mitgliedstaaten laut vorläufiger Tagesordnung über die Richtlinie abstimmen. Ob eine Mehrheit möglich ist, die mindestens 15 Mitgliedstaaten mit einem EU-Bevölkerungsanteil von mindestens 65 Prozent benötigt, war bis Dienstagabend noch unklar. Die belgische Ratspräsidentschaft hatte die Abstimmung mehrmals verschoben und in den vergangenen Wochen versucht, mit letzten Änderungen jene Mitglieder zu überzeugen, die bislang ihre Enthaltung angekündigt hatten. Der Spielraum dafür ist im Rahmen des im Trilog erzielten Kompromisses allerdings begrenzt. Dass sich die Bundesregierung noch einig wird, ist ausgeschlossen.

Während weite Teile der deutschen Wirtschaft gegen das Gesetz rebellieren und vor überbordender Bürokratie insbesondere für mittelständische Unternehmen warnen, drängen Entwicklungsorganisationen auf seine Verabschiedung. Es sei eine "historische Chance, die Globalisierung in nachhaltige Bahnen zu lenken", sagt Armin Paasch, Menschenrechtsexperte bei Misereor: "Wenn das EU-Lieferkettengesetz scheitert, wäre dies eine moralische Bankrotterklärung der EU."


Süddeutsche Zeitung hier 7. Februar 2024 Von Michael Bauchmüller und Georg Ismar, Berlin

Streit ums Lieferkettengesetz:"Wie ein bockiges Kind in der Koalition"

Streit ums Lieferkettengesetz: Den FDP-Ministern für Finanzen und Justiz, Christian Lindner (r.) und Marco Buschmann, geht das Gesetz zu weit.

Die FDP blockiert entgegen den Absprachen der Ampel ein neues EU-Lieferkettengesetz. In der SPD wird aus dem Ärger kein Hehl gemacht - und vom Kanzler ein Machtwort gefordert.

Dass es noch mal besser wird in dieser Koalition, daran glauben nur noch die Optimisten in der SPD. Zumindest aber hatten sie gehofft, dass der Kanzler einen persönlichen Neustart hinbekommt. Der jüngste Grund für den Frust: das EU-Lieferkettengesetz.

Es mag nur einer von vielen Streitpunkten in der Koalition sein, aber dass Olaf Scholz hier erneut der FDP nachgibt und kein Machtwort sprechen will, stößt manchen bitter auf. Und in der SPD-Bundestagsfraktion wird es zunehmend Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD) angekreidet, dass man wieder blöd dastehe. Der ganze Ampel-Abstimmungsprozess sei schlecht moderiert worden. Das Moderieren ist Schmidts Job.

Am Freitag steht die letzte Abstimmung über das Gesetz an, das in Lieferketten höhere Umwelt- und Sozialstandards durchsetzen soll. Deutschland wird sich dabei enthalten, weil sich die Koalition nicht einigen kann. Die letzte Hoffnung, daraus lasse sich noch durch einen Kompromiss eine Ja-Stimme machen, hat sich zerschlagen. Ein recht frustrierter Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte der Nachrichtenagentur Reuters, es gehe hier um eine "ideologisch motivierte Blockade der FDP". Folgen andere Staaten dem deutschen Beispiel, steht das ganze Projekt vor dem Aus. "Wenn wir unser einmal in Brüssel gegebenes Wort brechen, verspielen wir Vertrauen", warnte am Mittwoch auch Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne).

Unter deutschen Großunternehmern gibt es durchaus Befürworter des Gesetzes

Das Lieferkettengesetz soll Unternehmen ab einer Größe von 500 Mitarbeitern oder einem Jahresumsatz von mehr als 150 Millionen Euro dazu verpflichten, die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutzstandards sicherzustellen, und das auch bei ihren Zulieferern in Entwicklungs- und Schwellenländern, also über die gesamte Lieferkette hinweg. Wer sich nicht daran hält, muss mit Bußgeldern rechnen oder mit Klagen, etwa von Gewerkschaften. Viele Wirtschaftsverbände liefen Sturm gegen die neue Regel, sie fürchten neue Auflagen.

Vorige Woche aber bekamen die Verbände Post von den FDP-Ministern für Finanzen und Justiz, Christian Lindner und Marco Buschmann. "Beide Häuser können das Ergebnis nicht mittragen", schrieben sie. "Im Rat der Europäischen Union hat dies eine Enthaltung Deutschlands zur Folge, die im Ergebnis wie eine 'Nein'-Stimme wirkt." Viele Verbände applaudierten.

Mittlerweile hat Buschmann noch nachgelegt, mit einem Brief an seine "geschätzten Kollegen". Er liegt der Süddeutschen Zeitung vor. Es ist die Übersetzung des Briefes, den er mit Lindner verfasst hat - liest sich aber wie ein Appell, es der FDP gleichzutun: "Im Kampf für unsere Werte", so schreibt Buschmann auf Englisch, "brauchen wir in der EU auch einen neuen Sinn für Realismus." Europa dürfe sich nicht mit "bürokratischen Regulierungen fesseln".

Der ganze Vorgang ist auch für europäische Verhältnisse ungewöhnlich. Mitte Dezember hatten sich Europaparlament, Europäischer Rat und EU-Kommission in einem Trilog auf einen Kompromiss zu dem Gesetz geeinigt. Die spanische Ratspräsidentschaft hatte von den EU-Staaten das Mandat, für sie zu verhandeln, auch von Deutschland. Nach eingehender Beschäftigung mit der Trilog-Einigung, so legt Buschmann nun auch in dem Brief an seine Kollegen dar, sei sein Ministerium aber zu dem Schluss gekommen, "dass es unmöglich ist, sie zu unterstützen". Und daraus folge die Enthaltung Deutschlands.

So verhielten sich nur "neoliberal verbohrte Dickköpfe", sagt der Juso-Chef

Besonders für Arbeitsminister Heil ist es eine Schlappe: Er hatte noch versucht, die FDP mit Eckpunkten zum Bürokratieabbau zum Einlenken zu bringen. Doch er musste erkennen, dass er aus dem Kanzleramt wenig Rückhalt erfährt. Für Olaf Scholz wird sein Kurs parteiintern zunehmend zum Risiko - so will er auch trotz aller Sparnöte keinen Konflikt mit der FDP bei der Schuldenbremse riskieren. Gerade mit Blick auf das Erstarken der AfD werden aber Impulse, etwa für eine Wohnungsbauoffensive, gefordert, um Wahlversprechen einzulösen. In der Fraktion werden nun immer wieder - noch anonym - Stimmen laut, Scholz solle doch der FDP mal mit Rausschmiss drohen. Bei aktuellen Umfragewerten von vier Prozent könne die FDP die Koalition gar nicht verlassen, schon aus Angst, bei Neuwahlen an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern.

Juso-Chef Philipp Türmer ist spürbar wütend, er fordert von seiner Partei mehr Mut, speziell vom Kanzler. Schließlich sei das Lieferketten-Projekt im Koalitionsvertrag verabredet. "Olaf Scholz sollte dem liberalen Koalitionspartner bis Freitag einmal tief in die Augen schauen und klarmachen, dass die FDP sich nicht die ganze Zeit wie ein bockiges Kind in der Koalition verhalten kann", sagte er der Süddeutschen Zeitung. "Als Regierungschef darf er dieses Vorgehen nicht kommentarlos hinnehmen, sondern muss zeigen, dass er die FDP wieder auf Linie des Koalitionsvertrags bringt, der die Unterstützung für das europäische Lieferkettengesetz ausdrücklich vorsieht."

Statt für faire und gleiche Wettbewerbsbedingungen in ganz Europa zu sorgen, stärke die FDP lieber Kinderarbeit und fördere Umweltzerstörung, so Türmer. So verhielten sich nur "neoliberal verbohrte Dickköpfe". Die FDP schade dem Ruf Deutschlands in der EU. So habe Verkehrsminister Volker Wissing schon das Aus für Verbrennermotoren verhindert. "Auch Marco Buschmann und Christian Lindner leben jetzt wieder ohne Sinn und Verstand auf europäischer Ebene ihre Rammbock-Mentalität aus, indem sie getroffene Vereinbarungen in letzter Sekunde aufkündigen." Es ist harter Tobak.

Der Druck auf den Kanzler nimmt zu

Umwelt- und Entwicklungsorganisationen reagieren nicht minder scharf. "Dass Deutschland durch seine Enthaltung das EU-Lieferkettengesetz auf den letzten Metern torpediert, ist skandalös", sagt Amnesty-Generalsekretärin Julia Duchrow. Die Leidtragenden seien Menschen, die unter ausbeuterischen Bedingungen arbeiten, aus ihrer Heimat vertrieben oder durch Umweltverschmutzung krank werden. Die Deutsche Umwelthilfe sieht in der Enthaltung einen "Affront für alle Unternehmen, die sich seit Jahren um nachhaltigere und fairere Lieferketten bemühen".

In die Kritik gerät aber auch hier immer mehr Kanzler Olaf Scholz - weil er der FDP das Veto durchgehen lässt. Schließlich könnte er hier auch seine Richtlinien-Kompetenz zücken. "Wir hätten von Bundeskanzler Scholz Führung erwartet, statt dass er sich vom kleinsten Koalitionspartner die Agenda diktieren lässt", sagt Lutz Weischer von Germanwatch.

Noch ist nicht klar, wie sich die deutsche Enthaltung auswirkt. Am Freitag stimmen die Mitgliedstaaten über das Lieferkettengesetz ab. Denkbar ist, dass sich wie Deutschland auch Länder wie Italien oder Ungarn der Stimme enthalten, sodass das Gesetz in letzter Minute kippt. Möglich ist aber auch, dass sich trotz der deutschen Enthaltung eine Mehrheit findet. Dann stünde Berlin ziemlich allein da. Welche der beiden Varianten für die Bundesrepublik peinlicher wäre, ist offen. Klar ist nur: Die Ampelkoalition hat ihren nächsten Konflikt - und der Druck auf den Kanzler in seiner eigenen Partei nimmt zu.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen