Zeit hier Von Sibylle Anderl und Ulrich Schnabel 2. Februar 2024
Soziale Kipppunkte: Ganz schön wackelig
Wie können sich gesellschaftliche Stimmungen ganz plötzlich drehen? Die Theorie der Kipppunkte liefert Erklärungen.
Die Bauernproteste wirken plötzlich ziemlich klein. Im Vergleich mit Hunderttausenden Demonstrierenden gegen rechts erscheinen hupende Traktoren und der Streit um Subventionen diese Woche fast marginal. Und anders als Anfang Januar, als gefühlt jeder einzelne Landwirt von einem Journalisten begleitet wurde, fiel die mediale Resonanz nun sehr bescheiden aus. Etwas war gekippt in der gesellschaftlichen Wahrnehmung.
Das Beispiel führt mitten hinein in die Wissenschaft komplexer Systeme. Sie beschreibt nicht nur, wovon die Wirkung einer sozialen Bewegung abhängt, sondern auch, welch große Rolle dabei der Zufall spielt: Bei der Planung ihrer Proteste konnten die Landwirte ja nicht ahnen, dass ihnen ein Treffen Rechtsextremer in Potsdam in die Quere kommen würde. In komplexen Systemen können eben schon kleinste Störungen zu großen Veränderungen führen; im Extremfall kippt das System beim Überschreiten eines Schwellenwertes sogar abrupt von einem in den anderen Zustand.
Der Begriff des Kipppunkts scheint deshalb wie geschaffen für die Beschreibung der Gegenwart. Nicht nur in der Klimaforschung, sondern auch in der politischen Debatte wimmelt es seit einiger Zeit von Kipppunkten: Manche sehen die Demokratie am Kipppunkt, während andere die Demonstrationen gegen rechts als mögliche Kipppunkte (in diesem Fall zum Guten) beschreiben. In jeder Hinsicht scheint Deutschland auf der Kippe zu stehen.
Doch was steckt wirklich hinter dem Begriff der Kipppunkte? Ist er nur eine schicke Metapher, oder liefert er neue Einsichten in die Dynamik sozialer Bewegungen oder ganzer Gesellschaften?
Bekannt geworden ist der Begriff durch die Klimaforschung. Zu Beginn des Jahrtausends begannen Wissenschaftler um Hans Joachim Schellnhuber und Timothy Lenton über Kipppunkte im irdischen Klimasystem zu reden. Ein Beispiel dafür liefert das arktische Meereis: Wenn die Erde wärmer wird und es schmilzt, wird weniger Sonnenlicht von den Eisflächen zurückgeworfen. Die Sonne heizt daraufhin das Meer stärker auf, das Eis schmilzt noch schneller. Irgendwann ist der Kipppunkt überschritten: Dann ist nicht mehr aufzuhalten, dass die Arktis eisfrei wird – und zwar dauerhaft. Ist das Eis erst einmal weg und das Wasser aufgewärmt, gibt es keinen einfachen Weg zurück.
Dieser Prozess lässt sich mit einer wertvollen Vase illustrieren, die auf einem Tisch steht, der immer mehr in Schieflage gerät: Erst passiert lange nichts – erreicht der Tisch aber einen kritischen Winkel, reicht schon eine kleine Erschütterung, und die Vase kippt. Und ist sie erst einmal zerbrochen, nützt es nichts, den Tisch wieder gerade zu stellen.
Das theoretische Prinzip hinter diesem Prozess heißt Selbstverstärkung. Das Schmelzen des arktischen Meereises etwa verstärkt sich selbst und geht dadurch immer schneller vonstatten. Kommt diese Art von Rückkopplung erst einmal in Gang, können zuvor stabile Systeme schnell instabil werden.
Auch die Sozialwissenschaften kennen das Konzept der Kipppunkte; denn in menschlichen Gruppen und Gesellschaften lassen sich ähnliche Phänomene beobachten. Bereits in den 1950er-Jahren stellten Sozialforscher in den USA fest, dass in vielen Stadtvierteln Schwarze und Weiße so lange in derselben Nachbarschaft lebten, bis der Anteil der schwarzen Bevölkerung auf 20 bis 30 Prozent anstieg. War diese Schwelle erreicht, begann die weiße Mehrheitsbevölkerung plötzlich massenweise wegzuziehen. Dabei erwies sich dieser Wandel in der Bevölkerungsstruktur als ähnlich unumkehrbar wie das (hypothetische) Abschmelzen des arktischen Meereises.
Der Konsens kippt, wenn 25 Prozent entschieden davon abweichen
Wie ein Team um die Klimaforscher Ricarda Winkelmann und Timothy Lenton vor einiger Zeit beschrieb, sind solche "sozialen Kipppunkte" allerdings noch schwerer zu erklären als die physikalischen des Erdklimas. Gesellschaften sind eben erheblich komplexer: Menschen verfolgen unterschiedliche Absichten, kommunizieren miteinander, werden von Werbung und Medien beeinflusst. Zudem kann eine Gesellschaft – anders als eine Vase – nicht nur zwei Zustände (heil oder kaputt) annehmen, sondern unzählige Zwischenstufen.
"In Bezug auf gesellschaftliche Veränderungen gibt es eben nicht den einen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt", sagt Isabelle Stadelmann-Steffen, Professorin für Vergleichende Politik an der Universität Bern. Sie spricht daher statt von einem Kipppunkt lieber von verschiedenen "Kippdynamiken", die auf vielfältige Weise zusammenwirken können.
Auch die Frage, wie nachhaltig eine Veränderung ist, ist in sozialen Systemen komplizierter als in physikalischen. Um von einem Kipppunkt sprechen zu können, darf das System schließlich nicht gleich wieder in den alten Zustand zurückfallen. Allerdings sind auch soziale Prozesse oftmals nicht leicht umkehrbar. Das zeigt etwa das Beispiel USA: Auch nachdem Trump wieder abgewählt war, war nicht wieder alles wie zuvor. Mit der Ernennung von mehreren Richtern am Supreme Court hatte er seinerzeit Fakten geschaffen, die das politische Klima in den USA noch lange beeinflussen werden.
Trotz aller Einschränkungen liefert das Konzept der sozialen Kipppunkte aber doch interessante Einsichten: zum Beispiel dass man keine Mehrheit braucht, um eine Stimmung zum Kippen zu bringen. Vielmehr reicht – wie bei der Segregation von weißer und schwarzer Bevölkerung – eine kritische Masse von 20 bis 30 Prozent.
Der Kommunikationsforscher Damon Centola von der University of Pennsylvania hat dazu vor einigen Jahren ein aufschlussreiches Onlineexperiment angestellt: Seine Probanden sollten sich gemeinsam auf eine Bezeichnung für verschiedene Objekte einigen; gelang das, wurden sie belohnt – alle einigten sich schnell. Im zweiten Schritt sollten einige "Abweichler" versuchen, den etablierten Konsens umzuwerfen und eine neue Bezeichnung durchzusetzen. Ergebnis: Wenn unter den Abweichlern eine Menge von mindestens 25 Prozent erreicht wurde, kippte zuverlässig die Stimmung.
"Eine Gruppe kann mehr Macht haben, als ihre Prozentzahlen zeigen", sagt auch die Sozialforscherin Ilona Otto, die an der Universität Graz die Dynamik von Systemtransformationen erforscht. "Eine engagierte Minderheit kann, wenn sie gut vernetzt ist und soziale Medien strategisch nutzt, Normen verändern und gesellschaftliche Dominanz erlangen."
Denn auch dabei kann es zu einem Prozess der Selbstverstärkung kommen: Wenn die Vertreter der Minderheit nach und nach andere überzeugen, berichten darüber irgendwann die Medien, was weitere Unterstützer schafft, die wiederum bei der Überzeugungsarbeit helfen – bis die Mehrheit kippt.
Auf diesen Effekt setzen seither zum Beispiel Klimaaktivisten ihre Hoffnung: Wenn eine engagierte Minderheit von 20 bis 30 Prozent reicht, um das Ruder herumzureißen, braucht man gar keine Mehrheit, um eine bessere Klimapolitik durchzusetzen. Derselbe Mechanismus kann allerdings auch in anderer Richtung zum Tragen kommen: etwa beim Aufstieg der AfD und der Verbreitung rechtsextremen Gedankenguts.
Doch woher kommt die erstaunliche Macht der engagierten Minderheit? Eine Erklärung liefert die Sozialpsychologie. Diese zeigt in unzähligen Studien, dass wir unser Verhalten an nichts so sehr ausrichten wie am Vorbild der anderen. Besser gesagt: Die meisten Menschen tun das, was die meisten Menschen in ihrem Umfeld tun. Deshalb gehen wir zum Beispiel lieber in Restaurants, in denen schon viele Menschen sitzen, als in leere; wir lesen Bücher, die auf Bestsellerlisten stehen, und tragen die Mode, die alle anderen tragen. Studien zeigen sogar, dass wir uns eher für Kinder entscheiden, wenn Freunde oder Kollegen Kinder bekommen, und dass unsere Bereitschaft, eine Solaranlage aufs Dach zu setzen, umso größer ist, je mehr Nachbarn eine solche Anlage installiert haben. Das zeigen Analysen des Volkswirts Johannes Rode von der TU Darmstadt. Auch dabei lässt sich eine Kippdynamik beobachten: Anfangs fühlt sich derjenige als Außenseiter, der als Einziger Solarmodule installiert; ziehen aber immer mehr Nachbarn nach, empfindet sich irgendwann der als Sonderling, der keine hat.
Die Lawine kommt nur in Gang, wenn die Bereitschaft zum Wandel besteht
Und gerade weil die Mehrheit vor allem das tut, was die anderen tun, können ein paar wenige Engagierte einen regelrechten Lawineneffekt auslösen. Treten sie entschieden genug auf, stecken sie nach und nach immer weitere mit ihrem Verhalten an, bis es die Mehrheit mitreißt. Das gilt allerdings nur, wenn bereits eine potenzielle Bereitschaft zum Wandel vorhanden ist. Sonst kommt keine Lawine in Gang.
Deshalb ist zum Beispiel die US-Bürgerrechtlerin Rosa Parks weltbekannt geworden, Irene Morgan aber weitgehend in Vergessenheit geraten. Dabei haben sie dasselbe getan: Beide haben sich geweigert, ihren Platz in einem Bus für Weiße frei zu machen. Aber Irene Morgan wagte ihren Akt des zivilen Ungehorsams im Jahr 1944 – und wurde sang- und klanglos verhaftet. Rosa Parks hingegen tat dasselbe elf Jahre später – und im Jahr 1955 war offenbar die Stimmung des Wandels da.
Der (damals relativ unbekannte) Baptistenprediger Martin Luther King griff ihren Fall groß auf, was die schwarze Bürgerrechtsbewegung befeuerte und schließlich zum Ende der Rassentrennung in den USA führte. Das zeigt: Nur wenn es gesellschaftliche Resonanz gibt, kann auch etwas kippen.
In der Regel beginnen solche Prozesse in sozialen Netzwerken, deren Mitglieder in engem Austausch stehen. In der Gesellschaft sind aber immer nur Teilgruppen der Bevölkerung untereinander eng vernetzt. Wenn also derzeit die bürgerliche Mitte gegen rechts auf die Straße geht, motiviert das nicht notwendigerweise auch andere Teile der Gesellschaft, sich anzuschließen.
Was die Demonstrationen allerdings verändern, ist die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Stimmung. Üblicherweise finden in den Medien – insbesondere den sozialen – nur die Lautstarken Gehör. Die schweigende Mehrheit hingegen ist dort unterrepräsentiert, was das Bild der gesellschaftlichen Stimmung verfälscht. Wenn nun plötzlich Hunderttausende Bürger auf die Straße gehen und für die Demokratie eintreten, machen sie auf eindringliche Weise eine soziale Norm erfahrbar, wie das keine Politikerrede je könnte. Und dieses entschiedene Auftreten beeinflusst wiederum jene, die bislang unentschieden waren.
Der Ausgang der Landratswahl am vergangenen Wochenende im Saale-Orla-Kreis könnte in diesem Sinne durchaus eine Folge der Demonstrationen sein. Statt des (zuvor führenden) AfD-Kandidaten wurde plötzlich doch der CDU-Kandidat gewählt. Selbst AfD-Landeschef Björn Höcke kam nicht umhin, in seiner Analyse der Wahlschlappe von den "gegnerischen Kräften des ganzen Landes" zu sprechen. Schließlich hat man auch im Saale-Orla-Kreis die Bilder der Demonstrationen im Fernsehen gesehen.
Dass sich Menschen an der sozialen Norm orientieren, gilt übrigens speziell in Krisensituationen, wie sie heute viele erleben. Eine kürzlich veröffentlichte Allensbach-Umfrage zeigte, dass das Gefühl wahrgenommener Unsicherheit in Deutschland sprunghaft zugenommen hat. Mittlerweile geben 76 Prozent der Befragten an, in einer "besonders unsicheren Zeit" zu leben, im Jahr 2019 waren es nur 45 Prozent.
Und wenn man selbst nicht genau weiß, was zu tun ist, verheißt der Anschluss an die Mehrheit Sicherheit. Das zeigt der 1968 von den Sozialpsychologen John Darley und Bibb Latané erstmalig beschriebene Bystander-Effekt: Erlebt man etwa in einem U-Bahn-Wagen, wie ein paar Typen mit Springerstiefeln einen Fahrgast bepöbeln, tendieren die meisten Menschen dazu, abzuwarten, was die anderen Fahrgäste tun – was am Ende dazu führt, dass niemand einen Finger zur Verteidigung des Angegriffenen rührt. Sobald aber ein Mensch die Initiative ergreift und weitere zur Mithilfe auffordert – "Ja, Sie mit der roten Mütze, helfen Sie mir!" –, kann die Stimmung innerhalb kurzer Zeit gegen die Pöbler kippen. Deshalb sind die sogenannten Upstander so wichtig: jene, die als Erste die Initiative ergreifen und die schweigende Mehrheit mitreißen.
Um als Erster mutig voranzugehen, braucht man allerdings das Gefühl, dass das eigene Verhalten bei vielen anderen auf Resonanz stößt. Seitdem in Deutschland Hunderttausende für die Demokratie auf die Straße gehen, ist zumindest diese Hoffnung größer geworden.
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