Links: Demographie: Altersaufbau der Bevölkerung in Dtl.
Demografische Entwicklung
Der Forscher Reiner Klingholz erklärt im Interview seine Theorie der »doppelten Überbevölkerung«, den Bevölkerungsschwund in China und wieso das Propagieren konservativer Werte nicht zu mehr Geburten führt.
SPIEGEL: Wenn es um das Bevölkerungswachstum geht, ist schnell von »Überbevölkerung« die Rede. Ist dieser Begriff eigentlich angemessen, um die Situation zu beschreiben?
Reiner Klingholz: Ich verwende ihn zumindest, weil er etwas wissenschaftlich Belegbares beschreibt: Ein Gebiet ist überbevölkert, wenn die dort lebenden Menschen mehr Ressourcen verbrauchen, als die natürlichen Systeme im gleichen Zeitraum bereitstellen können und die eigene Lebensgrundlage dadurch gefährdet wird. Wir erleben aus meiner Sicht etwas, das ich doppelte Überbevölkerung nenne.
SPIEGEL: Was heißt das?
Klingholz: Es gibt Länder, in denen es der Regierung nicht gelingt, alle Menschen mit dem Notwendigsten zu versorgen: Nahrung, einem Dach über dem Kopf, einem Job. All das führt dazu, dass Menschen in Armut leben. Wenn dann noch die Bevölkerung stark wächst, haben es diese Länder schwer, dem Kreislauf von Armut und immer mehr Menschen zu entkommen. Das ist die eine Seite…
SPIEGEL: …und die andere?
Klingholz: Die finden wir in den reichen Ländern, in denen die Bevölkerung nicht mehr wächst, aber dennoch enorme Ressourcen beansprucht. Auch das ist Überbevölkerung. Wenn man sich die Erde insgesamt anschaut, muss man einfach sagen, dass sie mit 8,1 Milliarden Menschen überbevölkert ist. Man muss nur schauen, wie es den Ozeanen und Wäldern geht, wie die Böden erodieren und wie viele Klimagase wir emittieren. Vieles davon lässt sich mit der doppelten Überbevölkerung erklären – wobei klar ist, dass der reichere Teil deutlich mehr zu verantworten hat.
SPIEGEL: Sie sagen das mit großer Gewissheit. Wie lässt sich das so eindeutig feststellen?
Klingholz: Es gibt viele Daten, die solche Entwicklungen belegen, Emissionen von Treibhausgasen zum Beispiel.
SPIEGEL: Welche Faktoren entscheiden, ob die Geburtenrate irgendwann nach unten geht?
Klingholz: Es sind und waren immer wieder dieselben Einflussgrößen, egal, ob es um Südkorea, Deutschland oder Nigeria geht: Gesundheit, Bildung, Jobs – und Frauenrechte. Sobald diese sozioökonomische Entwicklung in die Gänge kommt, wächst der Wohlstand, die Lebenserwartung steigt und die Geburtenziffer geht deutlich zurück. Auch in Europa ist es einst nicht anders gewesen. In Sub-Sahara-Afrika ist es komplizierter; viele Länder sind weniger gut in der Lage, diese Entwicklung eigenständig anzukurbeln. Aber den Trend sehen wir dort ebenfalls. Nachdem in Äthiopien die Gesundheitsversorgung und der Zugang zu Bildung verbessert wurden, sank die Geburtenziffer deutlich. Junge Frauen mit Sekundarabschluss bekommen etwa dreimal weniger Kinder als diejenigen, die nie zur Schule gegangen sind.
SPIEGEL: Wie lässt sich verhindern, dass diese Länder dieselben Fehler machen wie westliche Staaten in den vergangenen 150 Jahren und wir künftig acht Milliarden Menschen sind, die gemeinsam die Erde zerstören?
Klingholz: Es muss sich nicht alles wiederholen. Natürlich wäre es für das Ökosystem unseres Planeten ein Problem, wenn 1,4 Milliarden Menschen in Indien plötzlich so viel Fleisch essen wie wir. Aber ich halte es für ungerecht, wegen unserer Fehler andere Menschen in ihrer Entwicklung beschränken zu wollen. Wachsende Bildung und steigender Wohlstand sind auf der anderen Seite auch die Grundlage, um Dinge besser machen zu können. Das eigentliche Problem ist, dass insbesondere in Afrika viele Staaten von Hilfe abhängig sind und kein eigenständiges Gesundheits- und Sozialsystem haben.
SPIEGEL: Was passiert, wenn gesellschaftliche Freiheiten eingeschränkt werden oder die Wirtschaft schrumpft – geht die Zahl der Kinder dann wieder nach oben?
Klingholz: Nur in sehr wenig entwickelten Ländern. In Ägypten ist die Geburtenziffer in den vergangenen Krisenjahren zwischen 2009 und 2015 wieder gestiegen, als Frauen nach den arabischen Aufständen aus dem Arbeitsleben gedrängt wurden und soziale Sicherheiten verloren gingen. Mutterschaft war dann auch eine Form der Absicherung. Überall dort, wo die Geburtenziffer aber einmal längere Zeit unter den Wert von 2,1 gefallen ist, bleibt sie darunter. Das war bislang in jedem einzelnen Land der Welt so.
SPIEGEL: Dann nützt es auch nicht viel, wenn europäische Länder wie Polen das Abtreibungsrecht einschränken und traditionelle Werte propagieren?
Klingholz: Damit wird Polen keinen Erfolg haben. Die Zahlen sprechen für sich: Die höchsten Geburtenraten in der EU gibt es dort, wo die Gleichstellung vorangeschritten ist und die Kinderbetreuung gut funktioniert, also etwa in Skandinavien oder Frankreich. In Ländern, in denen sich das traditionelle, konservative Familienbild lange gehalten hat wie in Deutschland, bekommen die Frauen weniger Kinder. Es ist fast, als träten die Frauen in einen stillen Streik.
SPIEGEL: In China wurde vergangene Woche ein neuer Negativrekord gemeldet, was die Bevölkerungsentwicklung angeht. Sehen wir dort, was Europa bevorsteht?
Klingholz: Die Entwicklung lässt sich nicht vergleichen. In Deutschland ist die Geburtenziffer seit den Babyboomern von 2,5 auf 1,5 zurückgegangen. In China aber bekamen die Menschen noch vor wenigen Jahrzehnten durchschnittlich fünf oder sechs Kinder. Heute sind es 1,09. Eine extreme Veränderung.
SPIEGEL: Wie kam es dazu?
Klingholz: Peking hat jahrzehntelang seine demografischen Informationen wie einen Schatz gehütet – und die Weltöffentlichkeit angelogen. In den Behörden, die für die Umsetzung der Ein-Kind-Politik zuständig waren, haben so viele Beamte gearbeitet wie in kaum einem anderen Bereich. Dementsprechend gering war das Interesse, eine niedrige Geburtenziffer zu kommunizieren. Schließlich lebte man davon, sie erst noch senken zu müssen. China hat lange von einer demografischen Dividende profitiert: kaum Alte und immer mehr junge Menschen im arbeitsfähigen Alter, die den wirtschaftlichen Aufschwung vorangetrieben haben. Jetzt gibt es nur wenige, die diese Generation einmal versorgen oder pflegen können.
SPIEGEL: Wäre Einwanderung eine Lösung?
Klingholz: Dieses Thema ist in vielen ostasiatischen Ländern, auch in Japan, ein Tabu. Dieses Selbstverständnis, keine Menschen von außen zu brauchen, lässt sich nicht so einfach ändern. So schnell kann sich eine Gesellschaft gar nicht umstellen. Folglich wird es bald Arbeitskräftemangel und Pflegenotstand geben.
SPIEGEL: Hilft es wenigstens im Kampf gegen den Klimawandel, wenn wir immer weniger Menschen werden im Westen und in China?
Klingholz: Natürlich hilft es der Natur, wenn weniger Gutverdiener auf Erden leben. Aber das wird nicht reichen, weil auch sie pro Kopf immer noch viel zu viel verbrauchen. Die Wahrheit, vor der sich viele Politikerinnen und Politiker gern drücken, ist, dass wir suffizienter werden müssen, also bescheidener, genügsamer und bereit zum Verzicht. Wir benötigen die besten Techniker, um nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Aber wir müssen auch lernen, mit weniger auszukommen.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Reiner Klingholz, Jahrgang 1953, ist promovierter Chemiker und hat sich vor allem mit dem verheerenden Einfluss des Homo sapiens auf seine Umwelt beschäftigt. Von 2003 bis 2019 leitete er das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, einen Thinktank zu globalen demografischen Fragen. Er ist Autor des Buches »Zu viel für diese Welt, Wege aus der doppelten Überbevölkerung«.
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