Dieser Artikel hat mich in den letzten Tagen sehr beschäftigt, denn er scheint die wesentlichen Punkte unseres derzeitigen Scheitern als Gemeinschaft klar zu benennen. Noch überwiegen die Ängste und verhindern durch Verharmlosung und Leugnung einen klaren Schritt zur Verbesserung unserer Lebensqualitäten der Zukunft.
hier im Tagesspiegel: Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Jörg Steinbach | SPD. Minister für Wirtschaft, Arbeit und Energie des Landes Brandenburg vom 08.08.2023
Brandenburgs Wirtschaftsminister fordert, dass die Menschen im Land eine lebenswerte Zukunft mitgestalten – auch falls dadurch erst einmal Nachteile entstehen.
Der diesjährige Urlaub gab mir Zeit und Muße mich mal etwas analytisch, aber auch zukunftsgerichtet damit auseinanderzusetzen, was eigentlich in unserer Gesellschaft gerade passiert und wie wir damit umgehen sollten, um auch zukünftig wieder mit positiver Grundhaltung in Gemeinschaft zu leben.
Nun fallen solche Gedanken und Erkenntnisse nicht vom Himmel. Bezüglich der Grundlagen habe ich in starkem Maße das Buch „Erschütterungen“ unseres Altpräsidenten Joachim Gauck herangezogen. Sein in diesem Jahr erschienenes Buch hat mir in vielerlei Beziehung die Augen geöffnet.
Ich kann es nur jedem zur Lektüre empfehlen. Um von vornherein dem Vorwurf jeglichen Plagiats zu begegnen: Ich zitiere im Folgenden Thesen und einzelne Sätze aus dem zweiten Teil des Buches ab Seite 137. Und ich übernehme teilweise die Interpretation von Joachim Gauck, aber überwiegend modifiziere oder ergänze ich sie nach eigener Auffassung. (Joachim Gauck war zwischen 2012 und 2017 Bundespräsident.)
Unsere Zeit ist geprägt von einem teilweise disruptiven Wandel. In unserer Zeit sind die Probleme komplexer und globaler geworden und das Ausmaß und die Schnelligkeit des Wandels überfordert viele Menschen. Hinzu kam die Zuwanderung in den Jahren 2015/2016, die Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und der spürbare Klimawandel.
Vielfältige Ängste
Die Konsequenzen sind vielfältigste Ängste. Kann uns der Krieg selbst erreichen? Müssen wir mit einem weiteren Virus rechnen? Werden die zwangsläufigen massiven Umstellungen, die in der Wirtschaft notwendig sind, zu Wohlstandsverlusten führen? Jede und jeder von uns muss sein Denken und Verhalten einschneidend ändern und die Generationen reagieren unterschiedlich darauf. Junge Menschen arbeiten heute, um zu leben. Sie leben nicht mehr, um zu arbeiten. Und in einer englischen Studie aus den 90er-Jahren stimmen über 50 Prozent aller 16- bis 25-Jährigen der These zu, dass diese Menschheit verloren sei.
Nun kann man rückwärtsgerichtet beklagen, dass es uns in der Vergangenheit an Führung gefehlt hat, die auf Basis vorausschauender Planung und Mutes unpopuläre Entscheidungen gegen die Mehrheitsmeinung der Wahlbevölkerung durchsetzt, die sich erst im Nachhinein als richtig erweisen würden. In der aktuellen Situation hilft diese Erkenntnis allerdings nicht wirklich weiter.
Jede und jeder von uns muss sein Denken und Verhalten einschneidend ändern
und die Generationen reagieren unterschiedlich darauf.
Jörg Steinbach
Joachim Gauck führt diese Situation im Begriff Krise zusammen und zitiert in diesem Zusammenhang Wissenschaftler, die das Wort Krise mit einer gänzlich unbekannten Situation gleichsetzen, in der viele Werte Normen und Regeln ihre Gültigkeit verlieren (sterben) und das Neue noch nicht geboren ist, an dem man wieder Halt und Orientierung findet. Ob sich ein guter neuer Zustand ergeben wird, hängt aber maßgeblich von unserem eigenen Verhalten ab.
Ein Gedankenexperiment
Ich möchte die Leserinnen und Leser bitten, sich auf ein Gedankenexperiment einzulassen, das seinen Ursprung in der Psychologie hat. Es geht dabei um die eigene Einstellung im Verhältnis zu Kindern und Enkeln. Seien Sie bitte selbstkritisch in der persönlichen Beantwortung. Was ist Ihnen wichtiger? Kinder haben Respekt vor Eltern oder Kinder sollten ihre eigene Unabhängigkeit entwickeln. Sollten sie bedingungslosen Gehorsam zeigen oder lieber eigenes Selbstvertrauen entwickeln? Und schließlich sind gute Manieren wichtiger oder das neugierige Ausloten der zulässigen Grenzen.
Eine Bejahung der jeweils erst genannten Eigenschaften führen die Psychologen zu folgenden Verhaltensmustern zusammen. Kollektiver Zusammenhalt ist wichtiger als individuelle Unabhängigkeit, Sicherheit und Konformität dominieren Freiheitssuche und die Veränderung beziehungsweise Erneuerung und schließlich, sie führt zu Affinität gegenüber Hierarchie und Normen und zu wenig Toleranz gegenüber Menschen mit anderer Orientierung. Antipluralität und Angst vor Komplexität und Meinungsverschiedenheit sind die Folgen.
Merken Sie etwas? Am Anfang wurde postuliert, dass die erforderlichen Änderungen komplex sind und Toleranz sowie Pluralität erfordern. Die beschriebene Reaktion, die mit den jeweils zuerst genannten Eigenschaften zum Ausdruck kommt, ist aber rückwärtsgerichtet, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen und dient der Sicherung gewohnten Terrains. Sie wird also nicht eines unserer Probleme angehen oder gar lösen. Im Gegenteil, sie wird sie durch Nicht-angehen verschärfen.
Was heißt das nun für unsere gemeinsame Zukunft?
Ehe ich den Versuch einer Antwort unternehme, eine Vorbemerkung: Ich werde in den folgenden Ausführungen des Öfteren den Begriff „Komfortzone“ verwenden. nIch verstehe den Begriff Komfortzone nicht ausschließlich finanziell. Sie kann auch von Sachwerten und Umständen definiert sein.
Damit man eine finanzielle Komfortzone verlassen werden kann, muss sie erstmal existieren. So wird von mir beispielsweise eine Alleinerziehende mit kritischem Einkommen explizit aus meinen Überlegungen ausgenommen, da für sie bestimmt keine finanzielle Komfortzone existiert. Hier muss der Staat bei der Bewältigung der disruptiven Änderungen finanziell helfen.
Wir stehen also vor der Entscheidung:
Sicherung der noch bestehenden eigenen Komfortzone durch Festhalten an früher Bewährtem ohne Konzepte für die Lösung der Herausforderungen der Zukunft
oder
Mitgestaltung des unbekannten Neuen unter Inkaufnahme eigener Nachteile durch Verlassen der Komfortzone, mit der Chance auf eine lebenswerte Zukunft für unsere Kinder und Enkel.
Bitte mache sich eine jede und jeder ehrlich! Wer zurzeit sagt, Politik kümmert sich um modernen (dogmatisch begründeten) Unfug, wir leben in zu geringer Selbstbestimmung von der EU, die Kohäsionspolitik des wirtschaftlichen Ausgleichs zwischen den Mitgliedsländern der EU fordert von uns zu viel Solidarleistung zum eigenen Nachteil, wir sind fremdgesteuert in einer globalisierten Welt, der beschreibt alles Einflussfaktoren, die die eigene Komfortzone gefährden.
Diese Thesen geben aber keine Antwort auf die anstehenden Herausforderungen. Einen gleichzeitigen Erhalt der Komfortzone und Lösung der Herausforderungen wird es aber nicht geben!
Unsere Kinder sind nicht dumm!
Ich bin von Eltern großgezogen worden, deren höchstes Ziel war, dass es mir besser gehen sollte als ihnen, dass dieses schönere Leben motiviert, selber wieder eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen. Der eigene Vorteil wurde zugunsten des Kindes hintangestellt. Wollen wir wirklich diese Maxime aus eigenem Egoismus verlassen? Eines ist klar: Ein weiter so in der eigenen Komfortzone schließt eine positive Perspektive für die nachfolgenden Generationen aus!
Und unsere Kinder sind nicht dumm! Sie erkennen das und verzichten schon oftmals auf Kinder, weil sie meinen, diese Verantwortung nicht übernehmen zu können. Siehe das Zitat, dass unsere Menschheit bereits verloren sei. Haben Sie die Kraft unter Inkaufnahme eigener Nachteile, aber mit der Perspektive einer lebenswerten Zukunft für Kinder und Enkel, sich von denen abzuwenden, die rückwärtsgewandte Sicherheit propagieren?
Hat dies auch grundsätzlicher mit der Gesellschaftsordnung zu tun, in der wir leben? Offensichtlich, denn fast die gleiche Gruppe, die den Verlust von Sicherheit und Ordnung beklagt, setzt dieses mit einem nur mangelhaften Funktionieren unserer Demokratie gleich. Ist das eine korrekte Zuordnung von Ursache und Wirkung? In der Physik würde man sagen: hier werden Größen mit unterschiedlichen Einheiten in einen Zusammenhang gebracht, und das ist in der Physik nicht zulässig!
Das höchste Gut, und da werden mir hoffentlich sehr viele zustimmen, ist die Freiheit.
Jörg Steinbach
Ich glaube, der Vergleich mit der Physik ist gar nicht so schlecht. Sie wird von vielen Menschen als kompliziert und schwer verständlich empfunden. Die politische Vereinfachung ist da so überzeugend einfach. Aber genau das macht diese politische Vereinfachung so gefährlich und in der Aussage falsch!
Das höchste Gut, und da werden mir hoffentlich sehr viele zustimmen, ist die Freiheit. Sie ist den Ukrainern gerade so wertvoll, dass sie den Krieg, das vermeintlich Böseste, was es gibt, fortsetzen wollen, um sie wie David gegen Goliath zu verteidigen. Die Alternative wäre Unterdrückung, Vergewaltigung, Ermordung, jegliche Art von Freiheitsberaubung. Alles Eigenschaften autoritärer, diktatorischer Systeme. Und die zurzeit immer noch beste Form in Freiheit zu leben, ist in der Demokratie. Wer also die Demokratie infrage stellt, stellt das Leben in Freiheit infrage.
Der Nachteil der Demokratie
Soweit so gut, aber das macht noch niemanden zufriedener. Wo kommt der Widerspruch her? Nun, Demokratie, hat einen großen Nachteil: Sie funktioniert nicht von alleine! Sie funktioniert um so besser, je mehr sich im Sinne der Mit- und Eigenverantwortung in ihr für das gemeinschaftliche Wohl engagieren. Wenn also viele sich nur noch um sich selbst und ihren eigenen Vorteil kümmern, dann geht eine Gesellschaftsordnung wie die Demokratie kaputt.
„Mich hat ja keiner bei dieser Entscheidung gefragt!“, oder selbst wenn die Person gefragt wurde, die Mehrheit aber anders denkt, bestimmt die Mehrheit die endgültige Richtung. Dafür ist aber nicht das System, sondern das Individuum selber verantwortlich! Individualisierung verbunden mit dem Anspruch der Holpflicht wird mit der Demokratie nie in Einklang kommen. Aber wer so denkt, gefährdet die Freiheit von uns allen. Oder kurz gesagt, Demokratie, die unsere Freiheit ermöglicht, ist anstrengend!
Jörg Steinbach
Nochmal: Die einzige mir bekannte Gesellschaftsform in der Individualität, Meinungsfreiheit und aktives gestaltendes Mitwirken an der Lösung der Probleme und damit der Zukunft möglich ist, ist die liberale Demokratie. Sie ist unter anderem definiert durch Meinungs- und Versammlungsfreiheit, eine garantierte Rechtsordnung durch das Bundesverfassungsgericht, geheimer und freie Wahlen und aktives Mitwirken in Verein, Gewerkschaften und Bürgerinitiative und vieles mehr.
Joachim Gauck schreibt dazu: Die liberale Demokratie verkörpert (für mich) ein System, das sich zu unantastbaren Werten des Einzelnen bekennt, indem niemand daran gehindert wird, seinen Leben nach eigenen Fähigkeiten und Wünschen zu gestalten, außer er schädigt andere. Ich ergänze, diese Definition beinhaltet somit auch den pluralen Charakter.
Was bedeutet es nun für jede und jeden Einzelnen, dass Demokratie also auf eigene Mitverantwortung für die Gestaltung der Realität aufbaut? Das Wahrnehmen dieser Eigen- und Mitverantwortung ist einerseits nicht gerade in Mode oder auch teilweise geschichtlich nicht wirklich ausgeprägt. Ich kenne aus meiner Cottbuser Zeit die oft geäußerte Bitte, von der Übertragung von Verantwortung ausgenommen zu werden.
Ich höre im Landtag den Ruf, dass sich der Staat stärker um eine Gruppe oder ein Problem kümmern soll und es autoritär lösen möge und damit von der Mitverantwortung zur Lösung ablenkt. Politische Kreise rufen nach Konformität, statt Pluralität, nach alles beim Alten lassen, um sich so, den Veränderungen nicht stellen zu müssen und äußern Intoleranz gegenüber Menschen, die anders orientiert beziehungsweise geprägt sind. Dieser Weg wird jede Herausforderung durch Ignorieren und Festhalten an Althergebrachten verschärfen.
Bitte reflektieren Sie das Geschriebene und nehmen Sie alle ihre individuelle Mitverantwortung in einer lebendigen liberalen Demokratie aktiv wahr, auch wenn es bedeutet, auf die geliebte Komfortzone zu verzichten. Dann wird das Endergebnis, trotz des unangenehmen Weges dorthin, besser für unsere Enkel sein als das Vergangene und unsere Freiheit erhalten bleiben.
Zur Person
Jörg Steinbach (SPD), 67 Jahre alt, ist Brandenburgs Minister für Wirtschaft, Arbeit und Energie. Der Chemieprofessor und frühere Präsident der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg und der Technischen Universität Berlin ist verheiratet und hat drei Kinder.
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