Süddeutsche Zeitung 18. August 2023 hier Von Thomas Balbierer, Nürnberg
Nürnberg: Seit Anfang der Woche protestiert die "Letzte Generation" in bayerischen Städten, um vor der Landtagswahl auf das Versagen der Klimapolitik aufmerksam zu machen. Hier am Donnerstagmittag vor dem Nürnberger Hauptbahnhof.
Am selben Abend bricht in Nürnberg plötzlich erneut Chaos aus. Diesmal ist nicht die "Letzte Generation" schuld, sondern heftiger Starkregen über Franken. Mehrere Menschen werden bei dem Unwetter verletzt, in den Fluten gehen sogar Autos unter. In Weißenburg stürzt ein Teil der historischen Stadtmauer ein. "Was für ein schlimmes Unwetter", twittert Ministerpräsident Söder am Freitag. "Unser Mitgefühl mit allen, die davon betroffen waren."
Am Donnerstag blockiert die "Letzte Generation" tagsüber Straßen in Nürnberg. Das weitaus größere Chaos löst abends ein schweres Unwetter aus. Über einen symbolträchtigen Tag im bayerischen Wahlsommer.
Am liebsten hätte sich Susanne Henig dazugesetzt. Direkt auf den heißen Asphalt vor dem Nürnberger Hauptbahnhof, wo am Donnerstagmittag rund 40 Aktivisten der "Letzten Generation" in der gnadenlosen Augustsonne hocken und den Autoverkehr blockieren. Gerne hätte sie ihrem Frust über die Klimapolitik von Scholz, Söder und Co. Luft gemacht, ein Zeichen gesetzt. "Was könnte die Polizei schon machen, wenn sich plötzlich 50 oder 100 Leute neben die Aktivisten setzen?"
Neben ihr tragen Polizisten einen Aktivisten nach dem anderen von der Straße. "Ja, ich hätte mich gerne dazugesetzt", sagt Susanne Henig und wischt sich den Schweiß von der Stirn. "Aber dann kommt die Polizei", murmelt Jakob, ihr fünfjähriger Sohn, den sie auf dem Arm hält. Mama in Gewahrsam? Besser nicht. Er wedelt mit einem Flyer, auf dem steht: "Wir alle sind die 'Letzte Generation'."
Henig ist Lehrerin an einer Nürnberger Gesamtschule. In ihrer Klasse, sagt sie, fragten manche Schüler schon jetzt, wofür sie überhaupt einen Abschluss bräuchten. Sei doch eh alles egal, wenn die Welt in Flammen stehe. Ihre neunjährige Tochter wollte nach der Oberbürgermeisterwahl in Nürnberg wissen, ob "Deutschland jetzt von der Welt abbricht" - weil der neue Bürgermeister von der CSU für Autos sei und Autos doch die Welt kaputt machten.
Henig lacht kurz, okay, vielleicht scheine da die Weltsicht der Mama durch. Aber die Kleinen hätten ihr eigenes Hirn. Sie wird wieder ernst. "Wie erklärt man Kindern, was der Klimawandel für sie bedeutet?" Jakob quengelt, ihm ist zu warm.
Dass in ein paar Stunden die Innenstadt unter Wasser steht, überschwemmt von einem schweren Unwetter, ahnt zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Es ist nur ein Vorgeschmack dessen, was für Jakob und seine Generation in Zukunft Alltag wird. "Ich mache mir große Sorgen", sagt seine Mutter, als noch die Sonne scheint.
Die Klimakrise hat in diesem Sommer für neue globale Temperaturrekorde und zunehmendes Extremwetter gesorgt. Im bayerischen Landtagswahlkampf spielt sie bislang keine entscheidende Rolle. Viele Leute sind müde von all den Krisen. Corona, Krieg, Inflation - bitte nicht noch mehr Zumutungen. Man konnte die allgemeine Gereiztheit zuletzt an der Empörung über das Heizungsgesetz der Ampelkoalition ablesen.
Ministerpräsident Markus Söder hat diese Stimmung früh erkannt, er handelt nach dem Motto: keine Überforderung. Auf einem Parteitag im Mai kondensierte der CSU-Chef die Prioritäten seiner Politik in diesen Satz: "Das Wohlstandeis schmilzt schneller als das Eis der Gletscher." Klima- und Umweltschutz stehen im Wahlprogramm der CSU an zehnter Stelle. Statt den CO₂-Ausstoß zu senken, nahmen die klimaschädlichen Emissionen in Bayern laut offiziellem Klimabericht zuletzt sogar zu. Das Ziel der Klimaneutralität bis spätestens 2040, zu dem sich der Freistaat gesetzlich verpflichtet hat, ist in Gefahr.
In einer Demokratie, könnte man argumentieren, sei das nun mal der Wille des Volkes. Blöd gelaufen. Nur stimmt das nicht ganz: In einer repräsentativen Greenpeace-Umfrage vom Juli gaben 40 Prozent von 2000 Bayerinnen und Bayern an, die Staatsregierung unternehme zu wenig für den Klimaschutz. In einer ebenfalls repräsentativen Befragung aus dem Mai wünschten sich sogar fast 60 Prozent, dass Söders Regierung mehr macht, um die Klimaziele zu erreichen. Es sind Menschen wie Susanne Henig, die ihre Positionen in der politischen Debatte zuletzt kaum wiederfanden. "Das frustriert einen", sagt die Nürnbergerin.
In dieser paradoxen Gemengelage nimmt die "Letzte Generation" nun Bayern ins Visier. Die Protestgruppe macht seit Anfang 2022 mit zivilem Ungehorsam auf das Versagen der deutschen Klimapolitik aufmerksam und will kurz vor der Landtagswahl in mehreren bayerischen Städten protestieren. "Wir tragen unseren Protest dahin, wo die Verdrängung und das Festkleben am ,Weiter-So' besonders stark ist", teilte die Gruppe mit, gegen die Bayerns Justiz wegen des Verdachts auf Bildung einer "kriminellen Vereinigung" ermittelt. Mehr als 100 Personen haben sich den Protesten nach eigenen Angaben angeschlossen.
Am Montag und Dienstag gab es Aktionen in Würzburg, am Donnerstag und Freitag blockierten die Aktivistinnen und Aktivisten mehrmals Straßen in Nürnberg, bald wollen sie auch in München protestieren. Die Nürnberger Polizei war auf die rechtswidrigen Blockaden gut vorbereitet und konnte sie oft zügig auflösen. Diesmal hatten sich die Aktivisten nicht an den Asphalt geklebt.
Anders als bei vorangegangenen Protesten bleibt die Stimmung zwischen den Demonstrierenden und den betroffenen Verkehrsteilnehmern am Nürnberger Hauptbahnhof relativ ruhig. Man hört kaum eine Hupe, wohl auch deshalb, weil die Polizei blitzschnell da ist, als die Aktivisten auf die Straße strömen.
Ein Autofahrer, der in erster Reihe im Stau steht, filmt das Geschehen aus seiner Windschutzscheibe, eher fasziniert als wütend. Er sei Orthopäde, komme nun zu spät zu seinen Patienten, sagt der 62-Jährige. Den Protest findet er "problematisch", auch wenn er verstehe, warum das passiere. Seiner Meinung nach gebe es in Deutschland aber drängendere Probleme als das Klima, zum Beispiel die Inflation. Oder diese blöde Sache mit seinem Paket, das irgendwo bei der Post verloren gegangen ist.
"Arschlöcher", "Nichtsnutze" - natürlich gibt es auch Beschimpfungen
Natürlich gibt es auch in Nürnberg Passanten - vor allem ältere -, die den Störern Beleidigungen an den Kopf werfen: "Arschlöcher", "Nichtsnutze". Eine Seniorin mit Fahrrad schimpft im Vorbeigehen: "Ihr seid ja sowas von bescheuert." Auf der anderen Seite bietet eine Frau den Aktivisten Wasser an, zufällig vorbeikommende Passanten spenden Applaus.
Zum Beispiel ein älteres Ehepaar aus Altdorf bei Nürnberg. "Ich finde die Aktion äußerst relevant und wichtig", sagt der 66-jährige Rentner, der anonym bleiben möchte. Er beschäftige sich schon lange mit dem Klimawandel, habe das Buch "Die Grenzen des Wachstums" aus den 70er-Jahren gelesen, das bereits damals vor einer Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen warnte. "Jetzt ist all das Realität geworden", sagt der Mann. "Es wird heißer und trockener, trotzdem werden die Städte weiterhin zubetoniert."
Der bayerischen Staatsregierung wirft er "Ignoranz und Selbstherrlichkeit" in der Klimapolitik vor. Ministerpräsident Söder rühme sich zwar, zum Beispiel beim Ausbau der erneuerbaren Energien ganz vorne zu sein, doch da sei viel Schönfärberei im Spiel. Im Verhältnis zur Fläche und zum Stromverbrauch liegt Bayern laut Statistik eher im bundesdeutschen Mittelfeld. Er mache sich ernsthaft Sorgen um die kommenden Generationen, sagt der Mann und zeigt auf die vor ihm sitzenden Klimaaktivisten. "Sie sind es, die in den nächsten 60, 70 Jahren um ihr Überleben kämpfen müssen."
Einer von ihnen ist Micha Frey. Der 25-Jährige macht eigentlich seinen Master in European Studies an der Uni Passau, doch seit 13 Monaten ist Frey vor allem für die "Letzte Generation" aktiv. "Ich kann keine Hausarbeit über russische Literatur schreiben, während wir mit Vollgas auf die Klimakatastrophe zurasen", sagt Frey, um den sich am Donnerstagmittag immer mehr Polizisten scharen. Dass die Aktionen der "Letzten Generation" polarisieren und viele Menschen provozieren, ist ihm bewusst. "Aber durch Protest entsteht gesellschaftliche Spannung", sagt er. "Die kann auch konstruktiv sein." Er hofft, dass sich Menschen in Folge der Demos intensiver mit der Klimapolitik beschäftigen und verstehen, was auf dem Spiel steht. Um 12.59 Uhr ist er der Letzte, den die Polizei von der Straße trägt. Der Verkehr am Hauptbahnhof fließt danach wieder ungestört...
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